Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
aufgezogen wie ihren eigenen Sohn. Wäre ihr Herz nicht stehen geblieben. Nach Annis Tod hatte sich Alfonsa entschieden, ihn nach Sankt Helena zu holen. »Sie liebt dich«, sagte Julius. »Sie ist nur nicht besonders gut darin.«
»Und Fred?«
»Was ist mit ihm?«
»Wieso er?«
»Als Vater?«
Albert nickte und Julius reagierte, als hätte er das gesehen. »Es hat sich so angeboten.« Er zerrte an dem Verband an seinem Ellbogen, bis er endlich verrutschte und Julius die verschorfte Haut darunter kratzen konnte. »Das ist alles.«
Albert ließ sich auf den Hocker fallen.
»Ich hab dich ja gewarnt«, sagte Julius. »Manche Sachen will man nicht wissen.«
Albert musste an die vielen Nächte denken, in denen Fred nach einem Albtraum zu ihm ins Bett gekrochen war und Albert als Kind einen rund vierzig Jahre älteren Mann hatte trösten müssen, und was für ein schmerzhaft einsames Gefühl das gewesen war. Und doch hatte er sich in diesen Nächten, an Fred geschmiegt, immer sicher gefühlt und nicht so allein wie in seinem Stockbett in Sankt Helena.
Julius schmatzte. »Wenigstens bist du ihn bald los. Schon Pläne geschmiedet? Du bleibst hoffentlich nicht in Königsdorf. Ich kann dir nur raten –«
Da packte Albert Julius’ Hand. »Er war kein so schlechter Vater.«
»Natürlich verteidigst du ihn. Wer würde das nicht? Nach neunzehn Jahren mit ihm!«
Die Knöchel von Alberts Hand traten weiß hervor. »Er hat sein Leben für mich aufs Spiel gesetzt.«
»Ach«, Julius schmatzte, »ich bin beinah gerührt. Aber wir wissen doch beide, was für eine Erleichterung es sein wird, wenn es ihn nicht mehr gibt. Kein Grund, traurig zu sein! Ich sage dir: Um Fred ist es nicht schade.«
Albert ließ los und stand auf und wollte erwidern, dass er vor nichts mehr Angst hatte, als Fred zu verlieren; dass er sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen konnte; dass er insgeheim noch immer hoffte, Freds Herz würde sehr viel länger schlagen, als der Arzt diagnostiziert hatte.
Aber Albert war müde, sehr müde, und er sah keinen Sinn darin, mit diesem Mann zu streiten, dem nichts als ein karges Zimmer mit einem Schwarz-weiß-Foto geblieben war und der den Rest seines Lebens mit sich allein würde verbringen müssen. Julius tat ihm leid, er konnte Albert nicht verstehen. Albert selbst hatte erst in den letzten Wochen gelernt zu verstehen, wie glücklich er sich schätzen konnte, dass er mit Fred aufgewachsen war. Es gab niemanden, der bedingungsloser liebte als sein Vater.
»Gehst du endlich«, sagte Julius. »Wird auch Zeit.« Er schob den Verband wieder über die Wunde an seinem Ellbogen. An seinen Fingernägeln waren Spuren von Blut.
»Eine Sache noch«, sagte Albert.
Julius’ milchigweiße Augen suchten nach ihm.
»Fred hat ein Stück Gold gefunden … wissen Sie was darüber?«
Julius blinzelte. »Gold? Hab ich nie besessen.«
Nebel
Fred und Alfonsa warteten draußen vor dem Gebäude auf Albert. Sie standen auf einem Felsvorsprung, der als Aussichtsplattform diente, und blickten in den Hochnebel. Alfonsa hielt in einer Hand zwei Plastikschachteln, in einer davon lag ein angebissenes Sandwich.
Albert stellte sich zu ihnen, und für eine Weile versuchten alle drei, im Weiß vor ihnen etwas zu erkennen.
»Ich besuche ihn einmal im Monat«, sagte Alfonsa. »Wir reden eine Weile über die Qualität der Mahlzeiten und über das Wetter, und dann gehe ich wieder. Er hat nie nach dir gefragt. Ich dachte, er wollte das alles hinter sich lassen. Bis er mir das Gold gab.« Alfonsa rückte ihren schwarzen Schleier gerade. »Ich hätte dich schon viel früher herbringen sollen.«
Albert stimmte ihr zu, indem er nichts sagte.
Alfonsa wendete sich zum Gehen. »Schwester Simone holt uns ab.«
»Ich muss noch mal zurück«, meinte Albert. »Hab was vergessen.«
Alfonsa hielt ihm seinen Schminkklappspiegel hin.
Er nahm ihn verwundert entgegen. »Woher wussten Sie …?« Alfonsa zuckte mit den Schultern und zeigte ihm ein richtiges Lächeln, das Albert erwiderte.
»Wo gehen wir jetzt hin?«, fragte Fred.
Albert nahm ihm seinen Rucksack ab und entfernte ein paar Krümel aus seinem Bart und umarmte ihn. »Nach Hause.«
EPILOG
Es kitzelt. Das kommt von innen und wird immer größer. Es fühlt sich warm an, wie wenn man aus dem Schatten in die Sonne geht. Das sagt er Albert, er sagt ihm, dass es jetzt anfängt, und Albert lässt sein Glas mit dem Vanilleeis fallen und läuft zu ihm und kniet sich ins Gras
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