Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
nicht, wie sie sich verhalten sollte, sie wollte Ludwigs Hand nehmen, aber das ließ er nicht zu. Man widmete ihr keine freundlichen Blicke, die Leute dachten, es sei ihre Schuld, und Mitleid hatten sie mit Ludwig, der eine Tochter verloren hatte. Warum hätten sie auch etwas für Klondi empfinden sollen. In diesem Kaff wusste jeder, dass sie sich ihrer Verantwortung als Mutter entzogen hatte, dass sie nur wenig mit Marina hatte zu tun haben wollen. Die Leute dachten: Bestimmt ist sie froh. Dass da etwas dran war, konnte Klondi niemandem verraten. Natürlich hätte sie alles getan, um Marinas Leben zu retten, natürlich hätte sie ihr eigenes Leben gegen das ihrer Tochter eingetauscht, natürlich weinte sie sich jede Nacht in den Schlaf, natürlich hatte sie wieder mit dem Kiffen angefangen – jedoch spürte sie zum ersten Mal dieses seltsame Glück, auf das sie seit Marinas Geburt gewartet hatte. Sie liebte ihre Tochter, das konnte sie jetzt erst sehen, als sie an ihrem Grab stand, sie war dankbar für jeden Tag, den sie mit Marina geteilt hatte, und sollte es ihr irgendwann gelingen, dieses Glück Ludwig zu zeigen, dachte sie am Grab, dann verzeihe er ihr vielleicht und könnte ihre Hand nehmen.
Und Ludwig, der Busfahrer der Linie 479, der nun allein in einer Doppelhaushälfte wohnte, in die er mit seiner Familiegezogen war, und der auf keinen von Klondis Anrufen reagierte, verbrannte das Brautkleid, mit zu viel Spiritus, und steckte seinen Kompostmüll in Brand und beinahe auch sich selbst, worauf die Nachbarn die Feuerwehr riefen, was Ludwig vollkommen gleichgültig war, Hauptsache, das weiße Pech starb, grölte er betrunken, während man die Flammen in seinem Garten löschte. Am nächsten Morgen beschloss er, sich einen Vollbart wachsen zu lassen, denn nun störten seine unrasierten Wangen ja niemanden mehr. Nach der Scheidung hatte er nur getrunken, sobald Marina geschlafen hatte und es dunkel geworden war. Nach Marinas Tod begann er noch vor Sonnenaufgang zu trinken. Das war so im Oktober, im November und nicht anders im Dezember. Im Januar fragte er sich oft, ob es gerade dunkel geworden war oder bald hell werden würde. Im Februar wütete er sturzbetrunken in Klondis Garten und ertrank fast im Froschteich, worauf sie ihn in eine Entzugsklinik einwies. Und im März hatte er, nach einer langen Aussprache mit Klondi, sein selbstmitleidiges Dasein endgültig satt, rasierte sich, führte ein erfolgreiches Vorstellungsgespräch bei seinem alten Arbeitgeber und setzte sich nach einem halben Jahr Auszeit erstmals wieder nüchtern hinters Steuer.
Drei Tage lang lief alles ohne Probleme. Am vierten Tag fragte ihn ein tattriger Einbeiniger, ob die süße Marina bereits die Schule besuchte, worauf Ludwig ihn aufforderte, den Bus zu verlassen. Am fünften Tag erkannte er Marina im Rückspiegel, wie sie im Mittelgang in ihrem mondweißen Kleid tanzte. Am sechsten Tag setzte sie sich, während der Fahrt, auf seinen Schoß und kritisierte seinen Fahrstil. Am siebten Tag trank er einen Fingerhut voll Wodka zum Frühstück, und sie verschwand, und das war eine große Erleichterung. Am achten Tag füllte er Wodka in eine 1, 5-Liter -Mineralwasserflascheund nahm daraus bei jeder Haltestelle einen Schluck. Vom neunten bis zum einundzwanzigsten Tag leerte er täglich eine halbe Flasche, trotzdem war er der pünktlichste und freundlichste Busfahrer im ganzen Landkreis. Am zweiundzwanzigsten Tag verschluckte sich sein Chef bei der Wochenbesprechung an einem Hustenbonbon, und Ludwig bot ihm einen Schluck Wasser an. Am Abend des zweiundzwanzigsten Tages wurde Ludwig entlassen. Eine Woche lang blieb es dunkel und schwarz.
Dann, am 4. April 1977, bügelte Ludwig seine Busfahreruniform, nahm sich viel Zeit beim Ankleiden, machte einen Windsorknoten in seine Krawatte, setzte die Busfahrermütze auf, rief Klondi an, erzählte ihr vom vergangenen Monat und sagte, es täte ihm leid, und legte auf, ehe sie etwas erwidern konnte, schlich in die Garage seines ehemaligen Arbeitgebers, stellte die Anzeige eines Busses auf 479, nahm noch einen Schluck aus seiner Mineralwasserflasche, die nur Mineralwasser enthielt, und startete den Motor. Draußen regnete es. Eine Dreiviertelstunde später, um 6:15 Uhr, fünfzehn Minuten zu früh, erreichte Ludwig Königsdorf.
Klondi wagte es nicht, auf der Beerdigung ihres Exmannes zu erscheinen. Sie wollte gar nicht daran denken, wer alles dort sein würde, seine Eltern,
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