Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
Freunde,
ihre
Eltern – lieber bastelte sie sich eine Tüte Gras aus Zeitungsseiten, auf denen ein gewisser Frederick A. Driajes abgebildet war, der Held des Busunglücks, der Sohn ihrer Nachbarin. Klondi rauchte das Zeug auf dem Balkon ihres brüchigen Bauernhauses, weil sie davon ausging, dass die verrotteten Balken sie nicht mehr lange tragen würden, und während sie wartete, erinnerte sie sich daran, wie oft Ludwig ihr Gras weggeworfen hatte und wie sieihn dafür gehasst hatte und wie sie ihn dafür geliebt hatte. Sie wusste nicht viel über seine Familie und sein Aufwachsen in Königsdorf, Ludwig hatte nie darüber reden wollen; in all den Jahren war es ihr nur gelungen, ihm zu entlocken, dass seine Mutter in seinem zehnten Lebensjahr gestorben und sein Vater daraufhin abgehauen war – und trotzdem, oder deswegen, war Ludwig so stark gewesen, er hatte immer gewusst, was er wollte und was nicht. Kinder, eine Frau, ein Haus und einen Job. Und damit war er glücklich gewesen. Klondi hatte ihn darum beneidet, sie hatte sich gewünscht, weniger zu denken und nicht jede Entscheidung wieder und wieder durchzukauen, bis sie keine Ahnung mehr hatte, wohin es gehen sollte. Ludwig hatte ihr geholfen, er war der Pfeil gewesen, dem sie gefolgt war, für ihn hatte sie das Gras aufgegeben und war von Bremen ins oberbayerische Osterhofen gezogen, und mit ihm hatte sie geschlafen, hatte ihn bei einem Wanderausflug zum Herzogstand in einer Scheune wie in einem Softporno verführt und ihm dabei die ganze Zeit in die Augen gesehen und war sich endlich einer Sache sicher gewesen, dieser Sache, denn er war erst der dritte Mann in ihrem Leben gewesen und, wenn es nach ihr gegangen wäre, auch der letzte. Der Balkon unterstützte diesen Plan jedoch nicht. Auch Hüpfen und Rütteln brachten ihn nicht zum Fallen. Also kümmerte sich Klondi weiter um ihren Garten. Pflanzen widersprachen nicht, Pflanzen sahen dich nicht schief an, Pflanzen versuchten gar nicht erst, so zu tun, als würden sie verstehen, wie das war, wenn deine Tochter starb und dein Exmann zwei Menschen mit sich in den Tod riss. Pflanzen sagten nicht:
Das alles ist nicht deine Schuld
, was dich sofort denken ließ:
Das ist alles meine Schuld.
Pflanzen waren einfach da. Als Dünger verwendete Klondi algenartige Biomasse, die sie, mindestenszwei Mal die Woche, in einem Seitenkanal der Königsdorfer Kanalisation einsammelte. Dabei ließ sie sich Zeit, wanderte stundenlang durch die Tunnel, genoss den Hall ihrer Schritte und fühlte sich geborgen. Über ihr quälte das Leben die Menschen weiter, hier unten konnte es sie nicht finden.
Aber nach ein paar Jahren fand es sie doch. Auf einem ihrer unterirdischen Streifzüge sah sie Fred mit Taucherbrille in die Kanalisation steigen, und zuerst wollte sie fliehen und sich auf ihrem Balkon zudröhnen, folgte ihm dann aber, so leise es ging, vielleicht aus Neugier, vielleicht, weil es ihr nicht ganz koscher vorkam, dass ein Pflegefall wie er – Heldentum hin oder her – allein in der Kanalisation herumspazierte. Fred wanderte zu einer Holzkiste, öffnete diese vorsichtig und sah lange hinein, ohne sich zu regen, wie das nur ein Enttäuschter tut.
Das erinnerte sie an die Porzellandose. Diese hatte immer auf dem höchsten Regal in der Küche ihrer Eltern gestanden und war bis zum Rand mit rosafarbenen Pfefferminzpastillen gefüllt gewesen, die ihr Vater Klondi für gute Schulnoten oder fürs Rasenmähen gegeben hatte, je nachdem, wie gut die Noten gewesen waren oder ob sie den Rasen von sich aus, ohne von ihm darauf hingewiesen zu werden, gemäht hatte. Eigentlich
gab
er ihr die Pastillen damals nicht, er
überreichte
sie. Sich selbst eine zu nehmen war strengstens verboten. Klondis Vater nannte die portionierte Liebe
Goldmedaillen
und überreichte sie dementsprechend selten, außerdem duldete er keine Süßigkeiten im Haus, und so bekam er es hin, dass Klondi sich noch über die süße Belohnung freute, nachdem ihre Pubertät längst eingesetzt hatte. Sie war fünfzehn, als sie sich, nach längerem Ausbleiben einer Goldmedaille, dazu entschloss, die Porzellandose eigenhändig zu öffnen. Sie kletterteauf einen Stuhl, streckte sich, griff nach der Porzellandose, legte den Deckel beiseite, nahm eine der Pastillen, leckte an der Zucker-Pfefferminz-Ummantelung, legte sie sich auf die Zunge, lutschte, schloss rasch den Deckel, bevor sie sich mehr in den Mund stopfen konnte, und wollte eben wieder vom Stuhl
Weitere Kostenlose Bücher