Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
steigen, als ihr Vater die Küche betrat. Alles, was er sagte, war: »Wir hatten eine Abmachung.«
Damit war die Zeit der Goldmedaillen vorbei gewesen. Klondi wagte es nie zu fragen, ob sie welche haben könne, und ihre Eltern taten so, als hätte es die Pastillen nie gegeben. Die Porzellandose blieb dort, wo sie war, und manchmal spürte Klondi das Verlangen nachzusehen, ob sie noch Süßes enthielt, aber sie hatte Angst davor, dass die Dose leer sein könnte, sauber gewischt und geruchlos. Das Verhältnis zu ihren Eltern, das nie von großer Herzlichkeit geprägt gewesen war, entwickelte sich zu einer losen Freundschaft, der es an gemeinsamen Ideen und Interessen mangelte. Die Vorstellung, dass ausgerechnet diese Menschen sie in die Welt gesetzt hatten, wurde ihr so fremd wie die Liebe zu ihren Eltern. Spätestens als Klondi Mitte der Sechziger nach Bremen zog, um dort Landschaftsarchitektur zu studieren, und die Feinheiten des Kiffens entdeckte (beim Drehen einer Tüte mischte sie gern etwas getrocknete Pfefferminze unter den Tabak), hielt sie ihre Eltern bloß noch für bemitleidenswerte Sklaven des kapitalistischen Systems. Auch der arbeitslose Busfahrer in ihrer WG konnte sie von dieser Überzeugung nicht abbringen. Obwohl er ein schönes Lächeln besaß. Aber was wusste schon ein Junge vom Klassenkampf, der in der Bäckerei seiner Großmutter in einem katholischen Kaff in Oberbayern aufgewachsen war und Ludwig hieß?
Klondi ließ Freds Abstecher in die Kanalisation auf sich beruhen. Zunächst. Jeder sucht nach etwas, das er nie finden wird, sagte sie sich, eine schmerzhafte Erfahrung, die zum Leben gehörte. Den Herzstillstand seiner Mutter hatte Fred, soweit sie das beurteilen konnte, überstanden, da würde er ebenso damit klarkommen, dass
seine
Porzellandose, die Kiste – was auch immer er erwartete, darin zu finden – leer blieb. Und ferner ging sie das überhaupt nichts an, möglicherweise interpretierte Klondi die ganze Angelegenheit vollkommen falsch. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, ihr Kopf gab nie Ruhe, wenn er nicht alle Optionen abwog, und in diesem Fall kam er zu dem hundertprozentig richtigen Ergebnis, sie sollte sich raushalten, für eine Weile nicht mehr in die Kanalisation steigen, Fred aus dem Weg gehen, mal wieder die Wasserpfeife zum Einsatz bringen, ja.
Doch am nächsten Tag blieb sie beim Einkaufen im Supermarkt vor dem Süßwarenregal stehen, und einige Stunden Wartezeit später beobachtete sie heimlich, wie Fred die Kiste öffnete, innehielt und ihr eine Tüte Pfefferminzpastillen entnahm. Er mampfte alle noch an Ort und Stelle, und Klondi musste sich den Mund zuhalten, um ihr Kichern zu unterdrücken, ein fremdes, mädchenhaftes, aus ihr sprudelndes, erfreutes Kichern, als würde jemand sie an ihrer empfindlichsten Stelle kitzeln. Danach ließ Klondi ihren unterirdischen Spaziergängen bald überirdische folgen, die sie nicht ganz zufällig an der Bushaltestelle vorbeiführten, wo sie mit Fred plauschte; seinen Paps, brüstete er sich, hielt nicht einmal ein Unfall davon ab, ihm Liebste Besitze zu bringen.
An einem anderen Tag machte Klondi es sich im Garten in einem Liegestuhl bequem, blinzelte in die Sonne und drückte den Knopf mit dem roten Punkt eines Kassettenrekorders.Sie wollte Fred eine Geschichte erzählen, von einer Frau, die in einer Kanalisation auf neuen Mut gestoßen war. Bedanken wollte sie sich. Aber Klondi wusste nicht recht, wie anfangen, und grübelte so lange, bis sie einnickte. Später, nachdem sie ihren Sonnenbrand mit Quarkwickeln und Aloe-Scheiben behandelt hatte, entschied sie, dass dieses stumme Rauschen auf der Kassette womöglich besser war als alles, was sie hätte sagen können. Der ruhige Atem einer Frau, die endlich wieder friedlich schlafen konnte – mehr konnte sie mit Worten nicht ausdrücken.
In dieser Zeit tauschte Klondi eine alte Gewohnheit gegen drei neue:
Sie betrat nicht mehr ihren Balkon.
Dafür steckte sie Freds Wünsche in dessen Kiste und verwandelte sie in Liebste Besitze.
Und lachte, so gut wie immer allein, in ihrem Garten, am Froschteich, in der Kanalisation, einfach so lachte sie und erfreute sich an dem Klang.
Und begann eine Töpferlehre, die sie mehrmals unter- und schließlich abbrach, da der einzige Töpfermeister weit und breit ein erstaunlich feines Näschen für Cannabis besaß. Was sie natürlich nicht am Töpfern hinderte. Ihre Teeschalen und Aschenbecher verkauften sich sogar gut genug, um
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