Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
Schweretsried Segendorf vorzog. Selbst wenn ich dafür die Nähe zu meiner Schwester opfern musste.
Eines Morgens polierten Wickenhäuser und ich einen Sarg, den ein Glasbläser für seine Tochter ausgewählt hatte. Einbrecher hatten ihr mit den Glasscherben einer von ihrem Vater hergestellten Vase den Hals aufgeschlitzt.
»Was ist deine Meinung, Filou?«
»Zu was?«
»Zum Tod von diesem Mädchen.«
»Die Diebe sind Mörder. Man sollte sie hinrichten.«
»Eine gute Meinung. Und jetzt: Stell dir eine andere Wahrheit vor.«
»Die Diebe sind zur falschen Zeit ins falsche Haus eingebrochen? Das Mädchen … hat sich umgebracht?«
»Clever wie immer, mein Filou. Siehst du, ist gar nicht schwer. Man kann sich alles zurechtrücken, wie man will, solange man nur seinen Kopf ein bisschen anstrengt. Alles kann richtig sein. Es ist immer das wahr, an das zu glauben
man sich entscheidet. Merk dir das – Filou, wärst du gerne Bestatter?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Das macht einsam.«
»Vielleicht. Und jetzt …«
»Das Gegenteil?«
Wickenhäuser nickte.
»Wenn ich Bestatter wäre, könnte ich viel Geld verdienen.«
»Gut.«
»Ich könnte Ihnen Gesellschaft leisten.«
»Sehr gut.«
»Ich könnte jeden Tag Orangenmarmelade essen. Ich könnte eine Klosettspülung besitzen. Und elektrisches Licht.«
»Ja, weiter so!«
»Ich könnte von der Kirche kassieren, die zahlt am besten. Ich könnte die Leute trösten. Ich könnte immer gute Anzüge tragen. Ich könnte mir die beste Grabstelle reservieren. Ich könnte etwas Angesehenes tun.«
Mit einem lauten Knall schlug Wickenhäuser den Sargdeckel zu. »
Und
du kannst jede Frau haben, die du willst.«
Am selben Abend stellte mich Wickenhäuser einem Mädchen in meinem Alter vor, das er mit nach Hause gebracht hatte.
»Ihr Name ist Stephanie«, sagte er, worauf das Mädchen kurz die Stirn runzelte. Als wir uns begrüßten, überraschte mich ihr fester Händedruck. Wickenhäuser klopfte mir auf die Schulter und zwinkerte uns zu. Eilig schlüpfte er in seinen Mantel, öffnete die Haustür. Er habe noch einen dringenden Termin, es könne länger dauern.
Dann waren wir allein.
Das Mädchen, das vermutlich nicht Stephanie hieß, war weder hübsch noch hässlich. Auf der Straße hätte man sich nach ihr jedenfalls nicht umgedreht. Kommentarlos begann sie damit, ihr Kleid aufzuknöpfen. Ich rührte mich nicht und beobachtete, wie sie sich aus einer Stoffschicht nach der nächsten schälte und ihren Schmuck ablegte. Ihr Körper war zierlich, ihre Haut bleich und straff. Als Nächstes machte sie sich daran, mich auszuziehen. Ich fand das alles etwas seltsam, und dennoch ließ ich es mit mir geschehen. Ihre Berührung fühlte sich ja nicht schlecht an. Sie wusste, wie man einem jungen Mann Selbstvertrauen einflößte, wann man stöhnen musste und nicht kichern durfte. Nur einmal hielt ich sie zurück, als sie die Narbe an meinem Ellbogen küssen wollte. Während ich mit ihr schlief, dachte ich fasziniert: Ich schlafe mit einer Frau. Und ich fragte mich, wieso ich etwas, das sich so gut anfühlte, nicht längst ausprobiert hatte. Dass sie mir in den Stunden, die wir miteinander verbrachten, nicht einmal in die Augen blickte, irritierte mich kaum; das war eben Teil ihrer Profession, sagte ich mir.
Irgendwann nach Mitternacht kleidete sie sich wieder an, nickte mir zum Abschied zu und verließ das Haus.
Ich sah sie nie wieder.
Beim Frühstück am nächsten Morgen spürte ich, wie Wickenhäuser mich beobachtete. Ich ließ ihn ein wenig zappeln und entfernte, wie ich es stets tat, das Salz von meiner Brezel, als gäbe es nichts zu bereden. Erst nach dem Abwasch sagte ich: »Also gut.«
»Was meinst du?«, fragte Wickenhäuser, obwohl ich glaube, dass er sofort verstand, wovon ich sprach.
»Ich bleibe.«
In Schweretsried sah ich die Welt, und ich wollte die Welt sehen. Wickenhäuser wies mich in das Geschäft mit dem Tod ein, und da ich schnell begriff, musste der Bestatter nie eine Anweisung wiederholen. Anfangs half ich noch als Assistent aus, später bedeutete Filou so viel wie Partner.
In jener Zeit wunderte sich der Pfarrer von Schweretsried darüber, dass innerhalb derselben Familie auffallend häufig Taufen auf Beerdigungen folgten. So mancher Ehemann hatte noch kurz vor seinem Tod einen Nachkommen gezeugt. Der Pfarrer führte das auf eine ausgleichende Gerechtigkeit Gottes zurück. Himmels Gnaden, sozusagen. Beim Stammtisch in der
Eisernen
Weitere Kostenlose Bücher