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Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Titel: Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Kloeble
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Liebe
     
    An einem windigen Spätsommertag im September schritt ich an dem dreihornigen Rinderschädel vorbei (das Ergebnis eines äußerst bedenklichen Zuchtexperiments), der die nördliche Dorfgrenze markierte. Die ersten Bauernhöfe, die ich passierte, schienen viel kleiner als früher. Die Häuser hatte ich als zum Himmel ragende Gebäude in Erinnerung, nun aber war mein Eindruck, Segendorf bestand aus einer Ansammlung flacher, schiefwinkliger Konstruktionen, denen man dabei zusehen konnte, wie sie im Moor versanken. Selbst die Kirche, welche mir als Kind immer viel Respekt eingeflößt
hatte, glich meines Erachtens eher einem schlecht gepflegten Mausoleum. Ich wunderte mich, wie Menschen ihr ganzes Leben hier verbringen konnten. Melancholie empfand ich keine, bloß Erstaunen darüber, dass ich in diesem Ort aufgewachsen war.
    Um vorerst unerkannt zu bleiben, ging ich den Leuten, die im Dorf unterwegs waren, aus dem Weg, betrat schnurstracks die Wirtschaft und nahm an einem wackeligen Holztisch Platz. Ranziger Geruch lag in der Luft, der Schankraum war leer, bis auf die vollbusige Wirtin.
    »Von hier?«, blökte sie.
    »Bring mir was«, blökte ich zurück.
    »Maß?«
    Ich nickte. Mit einem schmutzigen Lappen verteilte die Wirtin eine Bierpfütze auf meinem Tisch. Bis spät in der Nacht blieb ich sitzen, aß Unmengen Rotkraut, Semmelknödel und ein zähes Stück Schweinebraten. Nach der langen Reise hätte mir alles geschmeckt. Je tiefer ich mich über meinen Bierkrug beugte, desto öfter sah die Wirtin zu mir herüber, fragte nach einem weiteren Wunsch oder machte kleine Umwege, um sich meinem Tisch zu nähern. Nachdem sie die letzten Stühle hochgestellt hatte, baute sie sich vor mir auf.
    »Bist nicht von hier.«
    »Nein.«
    »Dann kennst nicht meine Scheune.«
    »Nein.«
    »Ist im Sumpf.«
    Ich sah zu ihr auf.
    »Ich zeig dir, wos’ am gmütlichstn is.«
    Und sie zeigte mir auch noch ein paar andere Dinge, bevor
sie im Morgengrauen über das Labyrinth aus morschen Holzplanken, die kreuz und quer durchs Hochmoor führten, zu ihrem Mann eilte, der sie schon seit Jahren nicht mehr mit so viel Hingabe geküsst hatte. Wie ein Kätzchen, das zum ersten Mal Milch leckt, hatte sie gesagt.
     
    Die ersten Tage nach meiner Ankunft verbrachte ich im Hochmoor. Es war mir zu früh, ich brauchte noch etwas Zeit, um herauszufinden, wie ich meiner Schwester begegnen konnte, von der ich sechs Jahre getrennt gewesen war. Fast täglich besuchte mich die Wirtin, sie brachte mir Pferdeknackwurst, frisch gebackene Mohnbrötchen, Griebenschmalz, Moosinger   – eine ausschließlich in Segendorf hergestellte Käsesorte, die durch besonders lange und feuchte Lagerung zur Reife gelangt   –, lauwarme Milch, Mohnstreifen, eingelegte Froschschenkel, Mohnschnecken, Schwammerl und Eier. Als Gegenleistung wendete ich bei ihr mein bei Schweretsrieder Witwen erlerntes Wissen an und hoffte, dass ihre Schreie nur Blindschleichen, Störche oder Kröten aufschreckten. Mir kam es vor, als tauchte ich mit jedem Stoß, der wabbelige Wellen über den Hintern der Wirtin schickte, tiefer in mein Heimatdorf ein. Ich stieß und sie schrie. Bald versuchte ich mich an meinen ersten Schreien. In Nächten, in denen die Wirtin nicht dem Bett ihres Mannes fernbleiben konnte, erkundete ich den Ort. Hinter jedem Fenster, durch das ich ins Innere lugte, schrie jemand. Das Schreien gehörte zu Segendorf wie das Opferfest. Die Kinder schrien im Dunkeln nach Licht, die Männer schrien nach ihrer Frau, und die Frauen schrien wegen ihrer handgreiflichen Männer. Aber kaum jemand schrie so ausdauernd wie die Wirtin.
    »Kannst des auch dreimal?«, fragte sie mich und träufelte
Hagebuttenmarmelade auf ihre stämmigen, weißen Oberschenkel.
    Je besser ich darin wurde, die Schreie zu imitieren, desto lauter und durchdringender wurden die der Wirtin.
    Als ich längst annahm, ich würde jede Variante eines Schreis kennen, lockte mich in einer Nacht Gesang zu einem grün schimmernden Fenster. Das Haus lag am Dorfrand unweit des Wolfshügels, exakt an der Stelle, wo sich mein Elternhaus befunden hatte. Jemand trällerte unbekümmert (und unmelodisch) ein Lied. Leider schränkten eine giftgrüne Schlingpflanze hinter dem Fenster und wild wuchernder Efeu davor meine Sicht ein; ich erkannte nur Mosaikstücke einer molligen weiblichen Gestalt, die im Zimmer tanzte. Da war ein rosa Ellenbogen, da beigefarbene Rüschen, da ein Stück weißer Haut, da eine runde Nasenspitze,

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