Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
Vanillesoße vom Kinn, »ohne unsere Eltern haben wir es doch alle besser.«
Noch in derselben Nacht schob ich jede Erinnerung an Else von der lebendigen auf die tote Seite. Es ergab doch wenig Sinn, sich von Gedanken an Menschen traurig machen zu lassen, die es nicht einmal mehr gab.
Der Dezember kam und mit ihm der erste Frost und die Erkenntnis, dass zwischen Wickenhäuser und mir ein unausgesprochenes Abkommen bestand. Würde ich mich nicht beschweren, dann würde Wickenhäuser mich nicht fortschicken. Der Bestatter war ledig und begrüßte Gesellschaft. Sporadisch
lud er Männer ein, die wie Frauen geschminkt waren, oder eine Frau und einen Mann, die wie Frauen geschminkt waren, oder, wenn auch selten, nur ungeschminkte Frauen. Solcher Besuch war für Wickenhäuser ebenso Leidenschaft wie die Betreuung von Hinterbliebenen. An so manchem Freitag, meist jedoch erst samstags, noch vor Sonnenaufgang und im Nebelgrauen, betraten sie sein Haus, gehüllt in lange Mäntel. Im Kamin hüpfte bei solchen Gelegenheiten fröhlich das Feuer und Wickenhäuser trug seinen Gästen neu gedichtete Verse mit schriller Stimme vor, die selbst im ersten Stock, wo ich wach lag, noch zu vernehmen war.
Wenn du das hier hörst,
liebe ich dich nicht nicht mehr,
nein,
ich liebe dich mehr.
Später, wenn die Nacht fortgeschritten war und nach Schnaps und Tabak roch, begleitete Wickenhäuser der eine oder die andere auf sein Zimmer. Am Morgen darauf wechselte der Bestatter, wie mir auffiel, stets seine Bettwäsche.
Ich speiste mit ihm, begleitete ihn bei Einkäufen, half ihm, einen Sarg auf Hochglanz zu polieren. Dafür erhielt ich keine einzige Reichsmark, durfte aber in einem Bett so weich wie eine Million Wollblumen schlafen, Ochsenzunge, Gänsestopfleber oder Walderdbeeren mit Sahne kosten und mich in maßgeschneiderte Anzüge kleiden, ohne die ich bald nicht mehr einschlafen konnte, so angenehm schmiegte sich der kostbare Stoff an meine Haut. Zwischen Rechtschreiblektionen, die ich dem Steinmetz, einem Analphabeten, erteilte, damit er
Grabsteine nicht fehlerhaft behaute, und dem Arrangieren von Blumengestecken (ich fügte jedem ein paar Gänseblümchen hinzu) blieb mir genügend Zeit, um Schweretsried auszukundschaften. Trat ich gemeinsam mit Wickenhäuser vor die Tür, kam ich mir vor wie sein Liebster Besitz – ich wurde jedem vorgestellt, den der Bestatter auch nur im Entferntesten kannte. Besonders unbehaglich fühlte ich mich, wenn Wickenhäuser stolz auf meine »hübsche Denkerstirn« oder mein »hübsches, pechschwarzes Haar« oder meine »hübsche Figur« hinwies und mich statt Filou ausnahmsweise Adonis nannte. Da spazierte ich doch lieber allein. Angekommen in der Welt, sog ich nun jede Kleinigkeit in mich auf: den hustenfördernden Gestank von Automobilen; das Unbehagen im Gesicht ehemaliger Kunden, für die ich den Tod repräsentierte; die Prügeleien in der
Eisernen Tanne
, Demokraten gegen Reaktionäre; das Gezeter des jugoslawischen Buchhändlers, ein Vertreter jener aussterbenden Spezies pflichtbewusster Händler, die sich bemühten, jedes Buch, das sie anboten, auch zu lesen, womit der Jugoslawe vermutlich der einzige Schweretsrieder war, der das Erscheinen von
Mein Kampf
überhaupt registrierte; die Vielfalt an Gewürzen (und die ihrer Schreibweisen!), von Curry bis Kurkuma; den schummrigen Schein von Gaslaternen.
Allerdings wich meine Faszination oft dem Ärger über Fußgänger, die meinen Weg kreuzten oder mich anrempelten. Ich ertrug es nicht, hinter anderen zu gehen, die Straßen schienen mir überbevölkert, vollgestopft mit lärmenden, übel riechenden Menschen, weshalb ich meist so lange Passanten überholte, bis ich die Stadtgrenze oder eine verlassene Gegend erreicht hatte, deren Ruhe mich an zu Hause erinnerte und damit an Anni. Die Sehnsucht nach Anni war wie ein
unsichtbarer Faden, der um meine Brust gewickelt war. Mir kam es vor, als würde sie manchmal an ihm ziehen, worauf mein Herz pochte und ich Angst bekam, ich könnte sie vergessen, und dann stellte ich mir die Frage, weshalb ich nicht versuchte, Kontakt zu ihr aufzunehmen, und antwortete mir, das sei unmöglich. Post wurde nach Segendorf nicht geliefert, Wickenhäusers nächster Abstecher gen Süden war noch nicht abzusehen, und um selbst dorthin zu reisen, war ich viel zu jung.
Im Nachhinein denke ich, das waren nur Ausreden, mit denen ich mein schlechtes Gewissen beruhigte. Der wahre Grund lautete, dass ich
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