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Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Titel: Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Kloeble
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kosten, aß ich gierig und ließ nichts übrig. Inzwischen war mein Gesicht voller geworden, und wenn ich auf der Toilette saß   – mich faszinierte die Klosettspülung beinahe so sehr wie der Lichtschalter   –, platschte es jedes Mal, als würde ich Steine ausscheiden. Tagsüber sehnte ich mich danach, an die frische Luft zu gehen, aber Wickenhäuser befahl mir, das Bett zu hüten. »Filou«, sagte er, »ich entscheide, wann du rausgehst.«
    »Was heißt Filou?«
    »Filou bedeutet so viel wie Julius.«
    »Und was bedeutet so viel wie Wickenhäuser?«
    Er lachte. »Jedenfalls nicht Filou. Dafür bin ich nicht hübsch genug. Aber du, du hättest das Potential, einer zu werden.«
    »Will ich aber gar nicht.«
    »Schlaf!«
     
    Erst zu Elses Beerdigung stellte mir Wickenhäuser frei, mich zu begleiten, und ich ließ mich nicht zweimal bitten. Zu diesem Anlass legte mir der Bestatter einen schwarzen Anzug aufs Bett.
    »Vielleicht passt er mir nicht«, sagte ich.
    »Vertrau mir, Filou. Ich hab ein Auge für Körpermaße.«
    Ich war verblüfft: Weder waren die Ärmel überlang, noch schnitt der Anzug ein, nicht einmal provisorisches Hochstecken oder Raffen war nötig. Kein Vergleich zu meiner besten und schlimmsten, da selten getragenen und deswegen unbequemsten Lederhose, in Segendorf, früher, die ausschließlich für Sonntagsmessen aus dem Schrank geholt worden war. In die Haferlschuhe brauchte ich nicht einmal Heu zu stopfen. Bisher hatte ich Kleidungsstücke mindestens so lange anhaben müssen, bis sie Mängel aufwiesen, um mich in ihnen wohl zu fühlen, diese Bestatterkluft aber war kein Stoff, sondern kam mir vor wie hauchdünne Schichten farbiger Luft. Und dennoch schützte mich der Anzug vor der fremden Umgebung, indem er mich tarnte und mich den Weg zur Kirche zurücklegen ließ, ohne aufzufallen. So fasziniert war ich von meiner funkelnagelneuen Hülle, dass ich Wickenhäuser blind hinterherlief wie ein Kind seinem Vater und Schweretsried unbeachtet an mir vorbeifloss, als hätte ich den Ort schon tausend Mal durchquert.
    Dann betrat ich an Wickenhäusers Seite die Stadtkirche und
sah die Urne. An der Seite war ein Messingschild angebracht, auf dem in geschwungenen Buchstaben
ELSE
stand. Das glich so gar nicht den mit zitternder Hand gezogenen Linien in den Linsen. In der kühlen Kirchenluft hing der Geruch von Holzpolitur, Kerzenwachs und vor allem Weihrauch. Da war keine Spur von Fett, getrockneten Blumen und Bitterkeit.
    Ich schluckte die Tränen. Niemand, besonders nicht Wickenhäuser, durfte wissen, was ich empfand, ich weinte nach innen, drückte die Tränen nicht aus meinen Augen, sondern zog sie in meinen Kopf, den Hals hinunter, und verstaute sie in meinem Bauch.
    Auf dem Heimweg nach der Beerdigung sagte Wickenhäuser: »Lass uns feiern!«, und wir kehrten in die Gaststätte
Zur eisernen Tanne
ein; Wickenhäuser bestellte sich ein Helles und für mich eine Dampfnudel.
    »Mach nicht so ein Gesicht, Filou.«
    »Ich bin nicht traurig«, log ich.
    »Gut«, sagte er, »ich auch nicht«, und log damit nicht besser.
    »Aber es war Ihre Mutter!«
    »Zumindest hat sie das immer behauptet.«
    »Wenn sie’s nicht war, wieso haben Sie sich dann um sie gekümmert?«
    »Ich? Das warst doch du!«
    Das Helle und die Dampfnudel wurden serviert. Zum ersten Mal in meinem Leben kostete ich Vanillesoße, sie schmeckte fast wie frischer Honig, nur noch besser, und während ich mir begeistert einen Löffel nach dem anderen in den Mund schob, schilderte mir Wickenhäuser, wie seine Eltern jahrelang verhindert hatten, dass er sein Zuhause verließ: Geschichten über Monster, von denen die Städte bevölkert
waren, eine strenge Tagesordnung mit erdrückend vielen Aufgaben und panische Schreie, sobald er sich ohne Erlaubnis am Türriegel zu schaffen machte. Nachdem sein Vater im Krieg gefallen war, hatte seine Mutter tagelang stumm, in ihr Brautkleid gehüllt, durch Wände und durch Wickenhäuser gestarrt. Letzten Endes war er nicht in die Ferne geflüchtet, sondern vor ihr.
    »Sie hat mich gehasst«, sagte Wickenhäuser.
    »Wieso glauben Sie das?«
    »Sie gab mir das Gefühl, ich hätte meinen Vater umgebracht.«
    »Aber er ist doch im Krieg gestorben.«
    Wickenhäuser gab ein So-war-sie-eben-Seufzen von sich.
    »Ich glaube nicht, dass eine Mutter ihre Kinder wirklich hassen kann.«
    »Wenn das stimmt, warum bist du dann nicht bei deiner?«
    Ich schwieg.
    »Filou«, Wickenhäuser tupfte mir mit einer Stoffserviette

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