Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
ausrichten. Deshalb kam ich nie mit nach Segendorf. Ich nahm an, sie wollte keinen Kontakt zu mir. Und immer, wenn ich versuchte zu verstehen, warum, tröstete mich Wickenhäuser, ich solle mir darüber nicht den Kopf zerbrechen und stattdessen die Freiheit in Schweretsried genießen. Die größte Grausamkeit Gottes sei nun mal, jedem Menschen eine Familie aufzuzwingen.
Im kühlen Sommer von 1930, als ich gutaussehende siebzehn war, kehrte der Bestatter von einem weiteren Abstecher nach Segendorf zurück. »Filou«, sagte er und zog die Abdeckplane von einem nussbraunen Sarg, »wir haben wieder ein Schnäppchen gemacht.«
»Wie viel?«, fragte ich aufgeregt.
Wickenhäuser flüsterte es mir ins Ohr.
»Dann lädst du mich heute zum Essen ein«, sagte ich feierlich, zögerte und schob zwei weitere Worte über meine Lippen: »Hat Anni …?«
»Tut mir leid.«
»Geht es ihr gut?«
»Sie sieht prächtig aus. Allerdings nicht so prächtig wie du.«
»Hast du sie gefragt, ob sie mich besuchen kommen will?«
»Sie ist ein Dorfkind, Filou.«
»Hast du sie gefragt?«
»Das Mädchen läuft weg, sobald dein Name fällt.«
»Vielleicht nächstes Mal.«
»Das wird es nicht geben. Ich habe endgültig beschlossen, dort nicht mehr hinzufahren. Ist zu weit entfernt.«
»Und die Reindl?«
»Sie versteht das. Und außerdem wird sie auch nicht jünger.«
Am Abend wälzte ich mich auf meiner Matratze und betrachtete immer wieder meinen Ellbogen; die Narbe war blass; solange man nicht nach ihr suchte, fiel sie kaum auf. Meine Schwester hatte fest am um meine Brust gewickelten Faden gezogen, als Wickenhäuser sie beschrieben hatte; ich verstand nicht, wieso mich keine Neuigkeiten aus Segendorf beschäftigten, als wären es schlechte Neuigkeiten.
Ich schlug die Bettdecke zurück, ging im Dunkeln zu Wickenhäusers Schlafzimmertür, hielt inne, und noch während ich mit mir haderte, ob ich anklopfen sollte oder nicht, sagte eine auffallend unschrille Stimme: »Komm rein.«
Wickenhäuser saß aufrecht im Bett. Seine Augen waren blutunterlaufen.
»Ich wusste, dass du’s merkst, Filou.«
»Was?«
»Ich dachte, wenn ich’s dir nicht verrate, dann würdest du nicht gehen.«
»Erzähl schon.«
»Deine Schwester wird heiraten.«
»Wen!«
»Einen Burschen namens Driajes.«
»Wann?«
»Im Herbst.«
»Im Herbst? Warum nicht im Frühling?«
»Sie will bald heiraten.«
Wickenhäuser klopfte auf eine freie Stelle neben sich. »Bitte.«
Ich setzte mich zu ihm. »Denkst du, ich sollte sie besuchen?«
»Ich denke, wenn du sie jetzt nicht besuchst, dann wirst
du sie niemals besuchen. Aber ich denke auch, dass du nicht mehr zurückkommst, wenn du sie besuchst.«
»Unsinn. Was ist deine Meinung?«
»Filou …«
»Was ist deine Meinung.«
»Ich will, dass du bleibst.«
»Und jetzt: Stell dir eine andere Wahrheit vor.«
»Ich … will … dass du …«
»Ja?«
»… gehst.«
»Gut. Weiter.«
»Du musst gleich morgen fahren.«
»Sehr gut.«
»Filou? Bleib hier. Nur heute Nacht.«
»Aber nicht lange.«
»Hältst du meine Hand?«
»Nein.«
Am nächsten Morgen brach ich auf. Nach längerem Hin und Her hatte ich mich gegen Hoss entschieden; den Großteil der Strecke könnte ich mit dem Autobus schneller zurücklegen, den Rest zu Fuß. Ich packte keinen meiner Anzüge ein; solange ich wenig mitnahm, gab es für mich genügend Gründe, bald zurückzukehren. Neben ausreichend Reiseproviant besorgte mir Wickenhäuser eine Karte, deren südlichste Markierung ein mit roter Tinte gemalter Kringel war, über den jemand Segendorf gekritzelt hatte. Außerdem überreichte mir der Bestatter beim Abschied noch ein Päckchen, dessen Inhalt sich wie ein Kissen anfühlte.
»Erst öffnen, wenn du im Bus sitzt«, mahnte Wickenhäuser und schluckte; er sah elend aus wie ein Segendorfer Totengräber.
Den Autobus betrachtete er argwöhnisch. »Du kommst doch zurück?«
»Aber ja.«
»Mein schöner Filou«, Wickenhäuser lachte ein Weinen, »und wenn ich dir sagen würde, dass ich ihr keinen deiner Briefe gebracht habe?«
Ich krallte Fingernägel tief in die Haut an meinem vernarbten Ellbogen. »Anni weiß nichts?«
»Nur einmal angenommen.«
»Dann«, sagte ich, »dann würde das einiges ändern.«
Kurz und kalt drückte ich Wickenhäusers Hand, nickte und nahm auf einer der hinteren Bänke im Bus Platz. Der Motor knallte wie ein Gewehrschuss. Darauf setzte sich der Wagen in Bewegung.
Die dritte
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