Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
wusste nicht, was das für Violet und ihn bedeutete, und er wollte sich auch nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen; deshalb war es ihm nur recht, dass Alfonsa ihn im Obstgarten treffen wollte.
»Ich mag es hier draußen«, begrüßte sie ihn im Schatten der Apfelbäume. Sie ließ sich nicht anmerken, dass sie zwei Tage nicht miteinander gesprochen hatten.
»Sie litten früher unter Platzangst, oder?«
Alfonsa blieb stehen. »Wie kommst du darauf?«
»Die anderen Schwestern haben mich immer gelobt, dass ich so viel mit Ihnen rausgegangen bin. Einmal hab ich das in Freds Lexikon nachgeschlagen: Agoraphobie.«
»Du warst noch sehr klein. Und hattest zu viel Fantasie.« Alfonsa ging weiter. »Vielleicht hält deine Freundin deswegen so viel von dir.«
»Violet? Sie ist nicht meine Freundin.«
»Weiß sie das auch?«
Albert wich ihrem Blick aus.
»Es scheint mir«, sagte sie, »wir haben dich hier nicht gerade auf die Damenwelt da draußen vorbereitet.«
Die Schwestern von Sankt Helena hatte er von Anfang an nicht als Frauen wahrgenommen. Als Lehrer und Erzieher, ja, als bornierte Besserwisser, oh ja, nie aber als weibliche Wesen – abgesehen von einer kurzen Phase in seinem fünften Lebensjahr, in der Albert geglaubt hatte, dass die anatomischen Offensichtlichkeiten einer Frau als »ungünstiges Timing« bezeichnet wurden, da er Alfonsa beim Umkleiden in ihrem Zimmer überrascht, auf ihre Nacktheit gedeutet und gefragt hatte, was das sei.
Albert pflückte einen Apfel, überprüfte ihn auf Wurmlöcher, polierte ihn an seinem Hosenbein und biss hinein. Es zog ihm den Mund zusammen.
»Die brauchen mehr Zeit«, sagte Alfonsa. »Mindestens noch einen Monat.«
»In einem Monat sind wir nicht mehr hier.«
»Ihr könntet bleiben. Was kannst du anderswo finden, das es nicht auch hier gibt?«
Sie sahen sich kurz in die Augen.
»Was in der Welt sollte mich hier halten?«
Sie schmunzelte. »Schuhebinden?«
»Klingt verlockend.«
»Albert«, sagte sie und ging zu einem krumm gewachsenen Baum, schnappte sich einen rotwangigen Apfel, roch daranund reichte ihn Albert. Er nahm einen vorsichtigen Bissen. Man schmeckte die Sonne im Apfel. »Es gab Gründe, dir nicht von ihr zu erzählen.«
Albert ließ den Apfel fallen.
»Du warst drei, als du zu uns kamst. Nicht alt genug für so etwas. Und als du alt genug warst, wartete ich auf den richtigen Moment, um es dir zu erzählen. Aber der kam nie. Irgendwann dachte ich, das war vielleicht gut so. Manche Dinge erfährt man besser nie.«
»Warum dann ausgerechnet jetzt?«
»Weil wir uns um dich gesorgt haben.« Es war typisch für Alfonsa, dass sie nicht
ich
sagen konnte. »Als dein Anruf kam, bestätigte das unsere Sorge. Wir hätten dich nie gehen lassen dürfen, besonders nicht in dieser schwierigen Situation mit Fred. Nur warst du so unglaublich stur. Wir sahen keinen anderen Weg, um dich zurückzuholen.«
»Der Zweck heiligt die Mittel«, sagte Albert.
»Könnte man so ausdrücken.« Alfonsa bückte sich, probierte Alberts Apfel und zeigte zufrieden lächelnd ihre Zähne. »Für die Frühreifen hatte ich schon immer ein Händchen.«
»Ich will sie sehen. Kommen Sie von mir aus mit. Aber ich will das hinter mich bringen.«
Alfonsa hob den Apfel zum Mund, hielt inne, biss dann umso kräftiger zu. »Fred geht es besser?«, fragte sie mit vollem Mund.
Albert hasste ihr Schmatzen. »Ja.«
Sie sah ihn an. »Worauf warten wir dann noch?«
Am frühen Abend verabschiedeten sich Violet, Alfonsa, Fred und Albert auf dem Parkplatz von Klondi, die freiwillig Alfonsa ihren Platz im Auto abgetreten hatte. Wenn sie sofort aufbrachen,konnten sie, eine Übernachtung eingerechnet, schon am nächsten Morgen den Zwirglstein erreichen.
Klondi wendete sich Fred zu: »Pass gut auf Albert auf, ja?«
»Albert ist sehr jung«, sagte Fred verständnisvoll.
»Albert ist anwesend«, sagte Albert und meinte zum wiederholten Male, Fred solle doch besser hierbleiben. Sie seien bloß vierundzwanzig Stunden lang weg.
»Aber ich will mitkommen!«
»Das ist kein besonders überzeugendes Argument, Fred.«
»Was ist kein besonders überzeugendes Argument?«
»Du musst nicht mitkommen.«
»Ich muss schon mitkommen!«
»Warum?«
»Weil, ich will deine Mama treffen!«
Albert sah Alfonsa vorwurfsvoll an.
Sie zuckte mit den Schultern. »Er hat ein Recht zu erfahren, wo es hingeht.«
Albert spürte ein Kitzeln in seinem Nacken, er wusste, seine Gedanken würden jede Sekunde
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