Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
Sitzplatz neben mir. Die ganze Fahrt über rührte ich es nicht an, sondern sah nach draußen: Die Alpen wuchsen und die Straße wurde schmaler, die Wälder dichter. Als der Bus meine Haltestation erreichte, ließ ich das Päckchen liegen. Auf Geschenke von Lügnern konnte ich gut verzichten.
»Warten Sie!«, rief eine Frau und hielt das Päckchen hoch. »Sie haben da was vergessen!«
Ich bemühte ein Lächeln und bedankte mich bei ihr.
»Da hatte jemand aber Glück«, sagte sie.
»Fragt sich nur, wer«, erwiderte ich und stopfte das Päckchen in meinen Reisesack.
Dort blieb es zunächst und teilte sich den Platz mit meinem Proviant. Dem trüben Segendorfer Licht wurde es erstmals ausgesetzt, als die Wirtin den Reisesack auf den Boden einer Scheune im Moor ausleerte, sich über den Kopf stülpte und verkündete: »Jetz kannst mit mia machn, was dwillst!«
Genau das tat ich; wobei die Wirtin vermutlich etwas anderes im Sinn gehabt hatte. Ich jagte sie aus der Scheune. »Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben!«, rief ich und brachte die grobschlächtige Frau zum Weinen, was schon seit Langem keinem mehr gelungen war.
In derselben Nacht, in der ich meine Schwester heimlich bei ihrem Tanz für Arkadiusz beobachtet hatte, machte ich mich erneut auf zu ihrem Haus. Von der Wirtin wusste ich, dass sie dort wohnte. Diesmal hatte ich Wickenhäusers Geschenk bei mir. Annis Heirat sollte am kommenden Tag stattfinden, hatte mir die Wirtin mitgeteilt, und wenn dieses Päckchen das enthielt, wonach es roch, dann war es wie für sie bestimmt. Ich klopfte an und Anni öffnete mir und schüttelte den Kopf und ich brachte kein Wort über die Lippen. Vor mir sah ich plötzlich unser altes Haus aufragen. Hinter einem Fenster im ersten Stock lagen Jasfe und Josfer nackt aufeinander und ineinander. Anni, die kleine Anni, stand vor dem Haus, in ihrer Hand die Fackel. Sie streckte den Arm aus und malte das Feuer in einer Schleife an die Haustür. Die Flammen sprangen auf die Holzwände über und verliehen dem Haus einen leuchtenden Anstrich in warmen, wärmenden Farbtönen. Die Feuerwand stapelte sich bis zu dem Fenster, hinter dem Josfer und Jasfe schrien. Unsere Eltern drückten sich gegen die Scheibe. Brüllten. Aus Lust oder Verzweiflung oder warumauchimmer.
»Du lebst!« Anni schlang ihre Arme um mich und riss mich
aus meinen Gedanken. Elses Geruch stieg mir in die Nase und Annis Wärme zu Kopf, und das war fast zu viel auf einmal.
»Du lebst!«, wiederholte Anni.
»Nicht mehr lange, wenn du noch fester zudrückst.«
Anni ließ mich los und sah mir in die Augen und sagte fast ohne Stimme: »Du lebst.«
Ich reichte ihr das Päckchen. »Für die Hochzeit.«
Sie lächelte mich gerührt an und riss es auf.
»Gefällt es dir?«
»… ja.«
»Wirst du es anziehen?«
»Julius, ich habe schon ein Kleid.«
»Es kann nicht so schön sein wie das hier.«
»Ich glaube schon.«
»Es ist immer das wahr, an das zu glauben man sich entscheidet.«
»Dann glaube ich, dass mein Kleid schöner ist.«
»Probier es wenigstens an.«
»Das geht nicht.«
»Warum?«
»Weil … es … es stinkt.«
»Es riecht!«
»Julius. Es stinkt. Und ich will jetzt nicht mit dir über ein Kleid streiten. Du bist hier! Du bist am Leben!« Sie fiel mir noch einmal um den Hals und küsste meine Wange und gab mir Elses Brautkleid zurück. »Heute ist wirklich der schönste Tag meines Lebens«, flüsterte sie in mein Ohr, und ich behielt für mich, dass ich ihr nicht wünschte, dass es von heute an bergab ging.
»Ist das Julius?«, fragte jemand mit einem Akzent, den ich noch nie gehört hatte. Ein schlaksiger Mann erschien neben
Anni, umfasste ihre Hüfte und reichte mir seine Hand. »Ich bin Arkadiusz. Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Anni hat oft von Ihnen erzählt. Sie müssen ein ganz besonderer Mensch sein.«
Ich drückte fest zu. Das stimmt, dachte ich, und: So viel Freundlichkeit kann unmöglich ehrlich sein.
»Sie wohnen natürlich bei uns«, sagte Arkadiusz.
Ich wusste, ich hätte ablehnen sollen und die beiden insistieren lassen, und dann nachdenklich wirken und die beiden weiter insistieren lassen, und dann mit einer Höflichkeitsfrage à la »Falls es euch wirklich nichts ausmacht …« Interesse bekunden und die beiden getreu der Aller-guten-Dinge-sind-drei-Regel ein weiteres Mal insistieren lassen, um endlich ironisch einzulenken: Wenn es denn sein muss.
Stattdessen zeigte ich segendorferisch meine Zähne:
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