Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
bekannt. Deine Tante kann nicht einmal mehr das Haus verlassen. Sie liegt und wartet und bricht den Weltrekord im Kopfschütteln. Dein Onkel muss sie waschen und ihren beeindruckenden Bauch polieren, und dabei murmelt er Worte, die sich anhören, als würde er rückwärts sprechen.
Wie warm du bist. Wahrscheinlich denkst du, damit kannst du mich erweichen. Ich verrate dir etwas: Da bist du nicht der Erste. Es ist nichts Persönliches, an Kindern kann ich einfach nichts finden. Das Einzige, was ich an dir schätze, ist deine Verschwiegenheit. Du bist ein ebenso guter Zuhörer wie die Toten. Früher bin ich mit einer Frau um ihr Haus spaziert, die auch nicht reden konnte. Manchmal vermisse ich sie. Elses Bild ist mir klar im Gedächtnis. Von meinen Eltern weiß ich nicht einmal mehr, wie ihre Gesichter aussahen. Immer wenn ich versuche, sie mir vorzustellen, verschwimmt alles. Anni sagt, es geht ihr ähnlich. Deswegen habe ich mich dagegen entschieden, ihr von dem Feuer zu erzählen. Wieso sollte ich sie an den Tod von Menschen erinnern, an die wir uns kaum erinnern?
Das ist doch kein Grund zu weinen!
Ich werde deiner Mutter sagen, sie soll dich Ludwig nennen. Nach unserem letzten König. Wie findest du das? Einen
solchen Namen wirst du brauchen. Mit dieser Mutter. Und diesem Vater.«
Frederick Arkadiusz Driajes folgte Ludwig Reindl mit fünftägiger Verzögerung in die Welt. Bei der Geburt drückte Anni mit ihrer rechten meine und mit ihrer linken Arkadiusz’ Hand – unsere beiden Gesichter waren mindestens so schmerzvoll verzerrt wie ihres. Erst das zufriedene Nicken der Hebamme glättete Sorgenfalten, und auf Freds Premierenschrei folgte Applaus, der jedoch nicht ihm galt, sondern der Tatsache, dass zur selben Minute, in geringer Distanz, feierlich der erste Stein des Kopfsteinpflasters für die neue Hauptstraße verlegt wurde.
Als Ludwig acht Monate später das Krabbeln meisterte (und Fred eine Art Seitwärtsrollenfortbewegung), reichte das Kopfsteinpflaster bereits vom nördlichen bis zum südlichen Ende der Gemeinde und durchtrennte sie in der Mitte gleich einem, wie Mina sagte, Fluss aus Steinen. Schon zwei Jahre später wurde die Hauptstraße, die Ludwig allein nur mit Links-rechts-links-Blick überqueren durfte (und Fred gar nicht), gen Süden ausgebaut und somit Teil der Reichsstraße 11 nach Innsbruck. Und im Frühjahr 1938, während auf ihr längst steter Durchgangsverkehr herrschte und das Knattern von Einzylindern Ludwig Glücksgefühle bescherte (und Fred Albträume), wurde unter ihr der Bau der eckigsten Kanalisation im gesamten Deutschen Reich abgeschlossen.
Ludwigs (und Freds) siebter Geburtstag näherte sich, und im Dorf wusste längst jeder, der davon wissen wollte, dass ich sein Vater war. Mina war im Hüten von Geheimnissen fähiger als ich selbst. An manchen Tagen konnte ich einfach nicht der
Versuchung widerstehen, meinen Sohn zu sehen. Gemeinsam wanderten wir die Hauptstraße entlang, zählten die Steine des Kopfsteinpflasters und verzählten uns. Wir versuchten, am Donnern herannahender Fahrzeuge zu erraten, welche Fahrzeuge sich näherten, oder spuckten Kirschkerne über den Steinfluss. In milden Sommernächten stahl sich Ludwig heimlich aus der Bäckerei, legte sich, keine zwei Schritt vom Kopfsteinpflaster entfernt, ins Gras und schlief dort besser als in seinem Bett. Auf die damit verbundene Gefahr konnte ich noch so häufig hinweisen, ihm Kadaver von überfahrenen Mardern zeigen oder ihn ohrfeigen – Ludwig ließ sich nicht davon abbringen, und somit blieb mir nichts anderes übrig, als uns mit einem Seil zusammenzubinden und mich neben meinen Sohn, keine drei Schritt vom Kopfsteinpflaster entfernt, als menschlicher Anker ins Gras zu legen.
Ruhe fand ich dort keine, dafür aber das offene Ohr eines Schlafenden.
»Ich habe mich nie als Vater gesehen. Und ich sehe mich noch immer nicht als einer.
Vielleicht reicht es, wenn du und deine Mutter das tun. Ihr Glaube – nicht nur an unsere Hochzeit – ist stärker als der des Pfarrers.
Wenn du eines Tages in dem Alter bist, dann überleg dir zweimal, ob du Kinder haben willst. Ich sage dir, die Folgen werden unabsehbar sein.
Du könntest feststellen, dass du sie liebst!
Oder das Gegenteil. Sieh dir deine Tante an. Das Ausmaß ihrer Enttäuschung darüber, einem Klöble das Leben geschenkt zu haben, entspricht der Häufigkeit und Intensität ihres Kopfschüttelns. Niemand versteht, dass sie es nicht tut, weil
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