Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Finger, die sich nach der Tür ausstreckten, bewegten sich in der Choreographie des Tanzes. Sie kam zu spät! Die Tür fiel mit einem kalten grausamen Klicken ins Schloß. Leuchtender Stern verharrte regungslos, und eine Woge der Qual traf mich wie ein eisiger Winterwind. Dann war sie verschwunden, die Musik war verstummt, der Brunnen war bedeckt, auf dem Pfad wuchs Unkraut, und ich starrte mit tränenfeuchten Augen auf eine vermauerte Stelle in der Wand.
»Sie tanzt jede Nacht, und ich bete jede Nacht, daß es ihr gelingen wird, durch die Tür zu ihrem Hauptmann zu gelangen. Doch sie kann nicht schneller tanzen, als es die Musik erlaubt«, erklärte Hahnrei Ho leise. »Und deshalb muß Leuchtender Stern bis ans Ende der Zeit tanzen.«
Li Kao summte leise die Flötenmelodie vor sich hin und dachte nach. Dann schlug er sich mit der Hand auf das Knie. »Ho, die Kette eines Geistertanzes ist aus dem Verlangen des Opfers geschmiedet, doch diese wunderschöne junge Frau wird von mehr als einem Verlangen beherrscht«, sagte er. »Im Leben oder im Tod kann keine Macht sie daran hindern, ihrer Kunst zu huldigen, und nur Kunst kann dem Tanzmädchen die Freiheit schenken. Es wird deine Aufgabe sein, zwei Schwerter und ein paar Trommeln zu beschaffen. Ochse, wenn ich noch einmal neunzig wäre, würde ich es selbst tun. Aber wie es aussieht, fällt dir die Ehre zu, dir Arme und Beine abzuschlagen.«
»Wie bitte?« fragte ich kläglich.
»Man sagt, der Ruf des Schwerttanzes sei stärker als der Tod, und es ist Zeit, das unter Beweis zu stellen«, erklärte Meister Li.
Die Füße zitterten mir in den Sandalen, und ich sah mich mit einer Bettelschale in den zwei verbliebenen Fingern auf einem Wägelchen durch die Straßen rollen: »Eine milde Gabe für die Armen! Eine milde Gabe für einen armen, beinlosen Krüppel...«
Jahr für Jahr versuchen wohlmeinende Staatsdiener, den Schwerttanz mit der Begründung zu verbieten, er töte oder verstümmle Hunderte, wenn nicht sogar Tausende. Doch der Tanz wird so lange lebendig bleiben, wie der große T'ang auf dem Thron sitzt (der Sohn des Himmels verbringt täglich eine Stunde mit Schwertübungen). Vermutlich sollte ich ein »barbarisches Ritual« erklären, das eines Tages möglicherweise so veraltet sein wird wie das Weissagen aus Schulterknochen, die man ins Feuer wirft.
Es gibt zwei Kämpfer, zwei Trommler und drei Richter. Die Trommeln bestimmen das Tempo, und nachdem der Tanz erst einmal begonnen hat, ist es verboten, den Rhythmus auf irgendeine Weise zu durchbrechen. Die beiden Wettkämpfer müssen in einer festgelegten Reihenfolge sechs Pflichtfiguren mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad absolvieren. Die Figuren werden alle im Sprung ausgeführt - beide Füße müssen sich in der Luft befinden - und erfordern genau bemessene Hiebe mit zwei Schwertern über, unter und um den Körper herum, die nach Anmut, Präzision, der Nähe der Klingen zum Körper und der Höhe des Sprungs beurteilt werden. Diese Pflichtfiguren sind sehr wichtig, denn Kampfrichter dürfen ungleiche Kämpfe nicht zulassen. Wenn einer der Teilnehmer deutlich unterlegen ist, verlangen sie, daß der Tanz abgebrochen wird. Die Wettkämpfer stehen sich am Anfang in ziemlich großer Entfernung gegenüber und nähern sich einander mit jeder Figur. Nach Beendigung der sechs Pflichtfiguren stehen sie sich praktisch hautnah gegenüber. Sind die Richter zufrieden, geben sie den Trommlern das Zeichen, den Rhythmus des siebten Grades zu schlagen, und der Tanz wird jetzt zur Kunst - hin und wieder auch zum Mord.
Die Figuren des siebten Grades sind nicht vorgeschrieben. Verlangt wird nur, daß sie von höchster Schwierigkeit sind. Die Tänzer bemühen sich, ihren Seelen Ausdruck zu verleihen. Der Spaß dabei ist, daß der Tänzer nach Beendigung einer Figur dem Gegner die Haare vom Kopf schneiden darf, wenn ihm das gelingt, ehe seine Füße den Boden berühren. Dem Gegner steht es frei zu parieren und anzugreifen - aber erst, nachdem er seine eigene Figur beendet hat und nur, solange seine Füße nicht den Boden berühren. Ein Tänzer, der zu einem Hieb ausholt, wenn auch nur eine einzige Zehe Bodenkontakt hat, wird auf der Stelle disqualifiziert. Meistertänzer verachten so leichte Ziele wie das Kopfhaar und versuchen, den Bart oder Schnurrbart des Gegners zu rasieren, wenn er solchen Schmuck trägt. Der Verlust von Nasen, Augen und Ohren gilt als ein unwesentliches Berufsrisiko. Ein Tänzer, der in Panik gerät und den
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