Meister Li und der Stein des Himmels
Dunkelheit.
Wann wird seine Kraft
die Welt verzaubern?
Wenn Schein als Sein
gilt, wird Sein zum Schein.
Wenn Nichts als Etwas
gilt, wird Etwas Nichts.
Der Stein vertreibt
Schein und Nichts
und steigt hinauf zu den
Toren der Großen Leere.
Der Prinz lächelte über
meine Verwirrung. »Ja«, sagte er, »der Text scheint zu etwas zu führen, und
dann entzieht er sich. Und genau das trifft auch auf allerbesten taoistischen
Humbug zu .«
Meister Li kratzte sich am
Kopf. »Lao tse ?« überlegte er. »Sein dritter Schritt
in Richtung Himmel war, daß er den Ton des Gesteins hörte, der sich in einer
Felswand bildete. Aber er stieg nicht auf den Schreien seiner Opfer zu den
Toren der Großen Leere hinauf .« Er zwinkerte mir zu.
»Er ritt auf einem Ochsen«, sagte er.
In den Schatten der Nische
gab es einen noch dunkleren Schatten, und als der Prinz mit der Fackel
vorausging, entpuppte er sich als ein schmaler Gang, an dessen Ende sich wieder
eine Eisentür befand. Aber sie hatte weder ein Schloß noch einen Griff. An der
Wand befand sich eine große Bronzetafel mit einer eingravierten Karte des Tals
der Seufzer. Daneben hing an einer eisernen Kette ein Eisenhammer. Der Prinz
verzog das Gesicht. »Das nennt man Humor«, sagte er trocken. Er hob den Hammer,
schlug auf das Tal der Seufzer, und die Eisentür glitt geräuschlos zur Seite.
Wir traten in einen runden Raum, der überraschend leer war. Hier fehlte die
widerliche Zurschaustellung des Reichtums, die im allgemeinen in der Grabkammer eines Tyrannen üblich ist. Es gab nichts als zwei Steinsärge,
zwei Opferschalen und einen kleinen Altar mit Weihrauchgefäßen. Meister Li
staunte ebenso wie ich, und der Prinz hob die Schultern und breitete die Hände
in einer Ich-weiß-es-auch-nicht-Geste aus. »Mein Ahne war von Anfang bis zum
Ende ein Rätsel«, sagte er. »Er hat ein riesiges Vermögen angehäuft, aber nicht
einmal ein Pfund Silber für seine letzte Ruhestätte ausgegeben. Was hat er mit
dem Reichtum gemacht? Seiner Familie hat er ihn ganz bestimmt nicht vererbt,
und nichts deutet darauf hin, daß sein kaiserlicher Bruder das Vermögen an sich
gerissen hat. Nach seinem Tod mußte die Familie jahrhundertelang immer wieder
Leute verjagen, die überall im Tal tiefe
Löcher gruben, und Betrüger
machen nach wie vor ein gutes Geschäft mit Karten, die zum verborgenen Schatz
führen sollen. Im linken Sarkophag liegt seine Gemahlin Tou Wan. Sie starb vor
ihm. Mein Ahne ruht im rechten .« Meister Li nickte mir
zu. Ich trat vor und begutachtete den steinernen Deckel. Er wog mindestens eine
Tonne, aber er lag in glatten Rillen. Ich stellte mich in Position und stemmte
mich dagegen. Mir brach beinahe das Rückgrat, ehe ich ihn soweit hatte, daß er
sich rührte, aber schließlich glitt er mit einem durchdringenden Kreischen zum
Fußende. Eine in geteerte Leinenbinden gewickelte Mumie kam zum Vorschein. Ein
Teil der Binden hatte sich aufgelöst, aber sie hatten das Skelett vor dem
Zerfall bewahrt, und ich sah das Stück eines weißen Schädels. Eine leere
Augenhöhle starrte uns an, und ich gestehe, ich stellte mit Erleichterung fest,
daß der Lachende Prinz sich nicht in der Verfassung befand, im Mondlicht zu
singen und zu tanzen.
Meister Li griff in den
Sarg und holte ein kleines, emailliertes Gefäß heraus, das einem Pillendöschen
glich. Darin befand sich nur ein Häufchen grauer Staub, und als er den Deckel
sauber rieb, sahen wir das Bild einer Kröte auf einem Lilienblatt.
»Ich habe gehört, daß man
glaubte, der Lachende Prinz würde sich wieder von seinem Fieber erholen, und
dies hier ist vielleicht der Grund dafür, daß er es nicht tat«, sagte Meister
Li nachdenklich. »Schon zu seiner Zeit wußte man, daß das Ohrdrüsensekret
bestimmter Kröten ein noch wirksameres Herzmittel ist als Fingerhut, und im allgemeinen verschrieb man Krötenelixier nur bei sehr
schweren Herzbeschwerden. Eine Überdosis kann natürlich tödlich sein.
Möglicherweise hat man das in seinen Sarg gelegt, um entweder auf eine
natürliche Todesursache hinzuweisen, oder darauf, daß der Kaiser ihm
tatsächlich den gelben Schal überbringen ließ, und der Lachende Prinz sich
dafür entschieden hatte, auf dem Rücken einer Kröte in die Unterwelt zu hüpfen.
Wichtig ist das natürlich nicht .«
Im Sarg befand sich sonst
nichts. Der verrückte Prinz war im Tod wie im Leben ein Rätsel. Ich schob den
Deckel wieder zurück. Wir gingen in den Gang hinaus, und der Prinz schloß die
Tür.
Weitere Kostenlose Bücher