Meister Li und der Stein des Himmels
Eurer Familie, und ich vermute,
wenn es um das Wohl des Tals geht, wenden die Bauern sich nicht an den Kaiser. Sie
wenden sich an Euch, und sie werden nicht um Hilfe bitten. Sie werden Hilfe
fordern. Das ist nicht gerecht, denn Ihr bekommt keine Pacht oder einen Anteil
an der Ernte, aber so ist es .«
Prinz Liu Pao sah ihn
nachdenklich an. Dann wandte er sich an mich und betrachtete prüfend meine
schwieligen Hände, den großen kräftigen Körper und das derbe Gesicht, in dem
der Bauer geschrieben stand. »Was sagst du, Nummer Zehn der Ochse ?« Ich errötete vor Verlegenheit. »Hoheit, Meister Li hat
recht«, erwiderte ich. »Nichts wird sie von der Überzeugung abbringen können,
daß im Tal der Seufzer das Wohlergehen in den Händen der Familie Liu liegt, und
wenn es um Gerechtigkeit geht, ist es wie mit der Prinzentrift. Die Bauern
können sich so etwas nicht leisten .« Der Prinz lachte
und erhob sich.
»Wie es scheint, bleibt mir
keine andere Wahl, als ihnen den Gefallen zu tun«, sagte er. »Vermutlich
erwartet man, daß ich mich im Beisein des berühmten Meister Li davon überzeuge,
daß mein abscheulicher Ahne ungestört im Sarg liegt .« »Das wäre im Augenblick alles«, sagte Meister Li. Der Prinz nahm einen
Schlüssel aus einem Schrank und führte uns nach draußen. Wir folgten ihm durch
ein Tor und einen gewundenen Pfad hinunter zu einer Felswand. Beim Näherkommen
entdeckte ich eine Eisentür im Stein, die beinahe völlig hinter Unkraut und
Disteln verschwand. Die alte Tür hatte ein neues Schloß. Die Finger des Prinzen
zitterten, als er den Schlüssel hineinsteckte.
»Alpträume der Kindheit«,
sagte er trocken. »Versteht Ihr, der Nachfolger des Lachenden Prinzen beschloß,
die berühmte Grotte genauso zu lassen, wie er sie vorgefunden hatte, und dort
die Ahnentafeln aufzustellen. Jeder Prinz war fortan gezwungen, in diesem
Denkmal des Mißbrauchs der Macht zu beten und zu opfern. Deshalb fällt es uns schwer,
Schmetterlingen die Flügel auszureißen, wenn unsere Instinkte in diese Richtung
gehen .« Ich erwartete tiefschwarze Dunkelheit. Aber im
Gestein befanden sich Risse, durch die grünlichgelbes Licht drang. Meiner
Meinung nach sollte die Besichtigung des berühmten medizinischen
Forschungszentrums zur Erziehung der Kaiser gehören - und zwar schon in jungen
Jahren. Man kann die Grotte kaum vergessen.
Eine lange Reihe von
Eisengestellen an einer Wand enthielt die wichtigsten Instrumente für die
wissenschaftlichen Untersuchungen; zum Beispiel Daumenschrauben,
Eisenpeitschen, Hodenquetschen, Zangen und verschiedene Geräte zum Schneiden
und Schaben. In der Mitte des Raums standen alte Operationstische, und darunter
führten Abflußrinnen zu den Steintrögen, in denen das Blut aufgefangen wurde.
Schauerlich aussehende Maschinen, deren Zweck ich nicht verstand, standen
aufgereiht an einer anderen Wand, und an der dritten Wand befand sich eine
Reihe von etwas, das ich sofort verstand: Eisenkäfige für die Bauern. Von dort
hatten sie einen guten Blick auf das, was ihren Angehörigen widerfuhr. Das
schlimmste war die Rückwand. Sie bestand aus natürlichem glatten Stein, beinahe
wie eine riesige Schiefertafel, und darauf waren mit größter Genauigkeit die
durchgeführten Versuche festgehalten. Geheimnisvolle mathematische Formeln,
Tabellen und Anmerkungen in alter Schrift wechselten sich ab. Meister Li wirkte
verwirrt, als er den Text für mich übersetzte.
»Der richtige Weg des
Steins... Der falsche Weg des Steins... Hier ist der Stein am stärksten... Hier
versagt der Stein völlig .. . Der Stein verzweigt sich
in drei Richtungen ... Keine Reaktion des Steins...«
Es ergab keinen Sinn,
ebensowenig wie das Gewirr von Pfeilen, die auf die verschiedenen ekelhaften
Stadien der Versuche deuteten.
»Was um Himmels willen
meint er mit all diesen Anspielungen auf einen Stein ?« sagte Meister Li.
»Das weiß niemand, aber
seine Besessenheit scheint übermächtig gewesen zu sein«, erwiderte der Prinz.
Er nahm eine Fackel aus einer Halterung und entzündete sie. Dann ging er in
eine dunkle Ecke. Dort sah ich die Ahnentafeln, und bei dem Gedanken, daß man
kleine Jungen zum Beten hierher führte und ihnen bittere Lektionen über den
Fluch erteilte, der auf der Familie lag, lief mir ein Schauer über den Rücken.
Die Ahnentafeln standen vor einer alten leeren Sakristei. In die Wand darüber
hatte man einen Text gemeißelt, den mir Meister Li ebenfalls übersetzte.
Der kostbare Stein
leidet in der
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