Meister Li und der Stein des Himmels
der alte
weise Mann düster. »Es ist völlig klar, daß die Gauner im Narrenkleid eine
Handschrift gestohlen und einen Mönch zu Tode erschreckt haben. Aber danach wird
alles schleierhaft. Man hört einen unheimlichen, lockenden Ton in dem
Augenblick, als die Gauner fliehen. Eine geheimnisvolle Substanz läßt Bäume und
Pflanzen genau an der Stelle absterben, auf die sie ihre Sandalen setzen. Wenn
zufällig ein unterirdischer Gang eingestürzt ist und alte Säuren freigesetzt
wurden, wie ich es dem Prinzen als Möglichkeit darstellte, ist es ein Zufall,
den nur Priester, Gebete und eine aufwendige Theologie herbeiführen können.
Wenn es kein Zufall war, warum hätten Gauner für den einfachen Diebstahl einer
Handschrift zu solchen Mitteln greifen sollen? Sie hätten sich mit dem
kaiserlichen Schatz davonmachen können, wenn sie gewollt hätten, oder dem
Kaiser die Unterwäsche stehlen können, während er sie trug. Mein Junge, man
kann den Fall wenden, wie man will, er ergibt keinen Sinn .«
Ich sagte natürlich nichts,
aber ich merkte, daß Meister Li seine Verwirrung genoß. Er hatte bereits
befürchtet, es gehe nur um einen einfachen Diebstahl, und nun betete er um ein
Rätsel, das die Richter der Hölle verblüffen würde. Er säuberte einen flachen
Stein und setzte sich unter den Sternenhimmel. Direkt unter uns sahen wir
winzige Lichter zwischen den Bäumen am Hang. Kleine Mädchen haben starke
mütterliche Instinkte, und sie nehmen das Fest der hungrigen Geister sehr
ernst. Sie ziehen mit kleinen Laternen aus gerollten Lotus- und Salbeiblättern,
in denen Kerzen brennen, durch die Umgebung. Ich spürte die Geister um uns
herum, die der Wärme der hübschen singenden Stimmen zustrebten: Ihr seid
nicht allein, sangen die Mädchen, ihr seid nicht vergessen. Wir denken
an euch und wir verstehen euch, unser Leben ist nur durch die Flamme einer
Kerze von eurem getrennt:
»Hou tsu-teng,
Ho yeh-teng,
Ming-erh kojeng.
Salbeibuschlaterne,
Lotusblattlaterne,
Heute brennst du hell und
frei
Morgen bricht man dich
entzwei .«
Ich wischte mir die Augen.
Das Mondlicht fiel auf das Linke Drachenhorn und das alte Schloß der Liu, und
ich fragte mich, wie der Lachende Prinz Gefallen daran gefunden haben konnte,
kleine Mädchen wie sie zu foltern und zu ermorden. Anscheinend dachte Meister
Li dasselbe. »Ich habe eine Theorie über den verrückten Prinzen«, sagte er,
»Ochse, welcher Beruf führt am ehesten zum Wahnsinn ?«
»Kaiser«, sagte ich ohne
Zögern.
Er lachte. »Dagegen kann
ich nichts sagen. Aber ich denke an einen ganz gewöhnlichen Beruf .«
Ich kratzte mir die Nase.
»Filzmacher ?« riet ich.
»Genau«, sagte Meister Li,
»Filz wird in Quecksilber gelegt, um ihn haltbar zu machen. Leute in bestimmten
Berufen - zum Beispiel Hutmacher - schwimmen praktisch in dem Zeug, und es ist
beinahe sicher, daß der Lachende Prinz es
getrunken hat .« »Meister?«
»Er war in seiner Jugend
ein vielversprechender Wissenschaftler gewesen«, erklärte Meister Li, »früher
oder später mußte er einfach mit dem Lebenselixier experimentieren. Es gibt
zahllose Rezepte, aber sie enthalten alle das allgemein
bekannte Zinnober, und Zinnober ist nichts anderes als
Quecksilbersulfit. Ich warne seit Jahren vor Quecksilber, aber niemand hört auf
mich. Der Grund dafür ist die kumulative und erst allmählich einsetzende
Wirkung, und man muß so lange gelebt haben wie ich, um den Zusammenhang zu
erkennen .«
Er sprang auf und führte
mir eine Reihe von Gesichtsausdrücken und Körperbewegungen vor. »Quecksilber
greift das Nervensystem an und ruft irgendwann solche Zuckungen, Verrenkungen
und ruckhafte Bewegungen hervor«, sagte Meister Li, und er machte eine Reihe
seltsamer abgehackter Bewegungen, die irgendwie reizvoll wirkten. »Ich denke
dabei eindeutig an die ansteckenden kleinen Tanzschritte des Lachenden
Prinzen«, sagte er, »mit zunehmender Vergiftung kommt es zu Ausbrüchen von
hysterischem Gelächter und mörderischen Wutanfällen. Das Endergebnis ist
schließlich Wahnsinn, gefolgt von Tod. Ochse, es ist durchaus möglich, daß die
Verbrechen des Lachenden Prinzen eine Folge von Experimenten waren, um die
Unsterblichkeit zu erlangen, und daß er dabei Zinnober trank -an sich war das
vielleicht nicht sehr dramatisch, aber es sind mehr Menschen umgebracht worden,
weil die Sandalen eines Kaisers nicht richtig paßten, und weniger deshalb, weil
er ein Zeichen vom Himmel erhielt. Jedesmal, wenn ich einen Oberpriester
Weitere Kostenlose Bücher