Meister Li und der Stein des Himmels
unverkennbar bereits freudig überrascht, und
nun schnurrte er geradezu. Er sagte, es handle sich um einen klassischen Text
des alten Weisen Chen Chiju, und er sei eine der vier Säulen, auf denen die
Zivilisation ruhte. Meine Bildung reichte nicht bis zu den Säulen der
Zivilisation, und da der Text in moderner Schrift geschrieben war, las ich ihn
mit großem Interesse.
*
Der Hausgarten
Hinter dem Tor ist ein
Pfad, und der Pfad muß gewunden sein. An der Biegung des Pfades ist ein äußerer
Schirm, und der Schirm muß klein sein. Hinter dem Schirm ist eine Terrasse, und
die Terrasse muß eben sein. An den Rändern der Terrasse wachsen Blumen, und die
Blumen müssen von leuchtender Farbe sein. Hinter der Terrasse ist eine Mauer,
und die Mauer muß niedrig sein. Neben der Mauer ist eine Kiefer, und die Kiefer
muß alt sein. Am Fuß der Kiefer liegen große Steine, und die Sterne müssen
schön sein. Auf den Steinen steht ein Pavillon, und der Pavillon muß schlicht
sein. Hinter dem Pavillon ist Bambus, und es muß wenig Bambus sein. Wo der
Bambus aufhört, ist ein Haus, und das Haus muß abgeschieden sein. Neben dem
Haus ist eine Straße, und die Straße muß sich verzweigen. Wo mehrere
Abzweigungen zusammenkommen, ist eine Brük-ke, und es muß verlockend sein, die
Brücke zu überqueren. Am Ende der Brücke sind Bäume, und die Bäume müssen groß
sein. Im Schatten der Bäume ist Gras, und das Gras muß grün sein. Oberhalb der
Grasfläche ist ein Bach, und der Bach muß schmal sein. Am Anfang des Bachs ist
eine Quelle, und die Quelle muß sprudeln. Oberhalb der Quelle ist ein Hügel,
und der Hügel muß sanft gewellt sein. Am Fuß des Hügels ist eine Halle, und die
Halle muß quadratisch sein. An der Ecke der Halle ist ein Gemüsegarten, und der
Garten muß groß sein. Im Garten ist ein Storch, und der Storch muß tanzen. Der
Storch kündigt den Gast an, und der Gast darf nicht ungehobelt sein. Wenn der
Gast eintrifft, bietet man ihm Wem an, und der Wein
darf nicht abgelehnt werden. Der Trank muß den Gast betrunken machen, und der
betrunkene Gast darf nicht nach Hausegehen wollen.
*
»Ich glaube, ich möchte
auch die anderen drei Säulen sehen«, sagte ich, »diese gefällt mir .«
»Wir werden zu ihnen
kommen«, versprach Meister Li. Er ging durch die Halle voran zu den Wohnräumen;
sie waren schlicht und mit bequemen Möbeln eingerichtet. Unser Gastgeber eilte
aus einem Hinterzimmer herbei, um uns zu begrüßen.
Hat außer mir schon jemand
einen Prinzen mit einem Staubwedel verwechselt? Diesen Eindruck jedenfalls
hatte ich von Prinz Liu Pao. Er war klein und mager, aber auf seinem dünnen
Hals saß ein riesiger Kopf. Die wirren Haare standen in alle Richtungen ab, und
man hätte damit ein paar Matratzen füllen können. Ich erinnerte mich, gehört zu
haben, daß er ein berühmter Maler sei - Farbflecke schmückten Nase und Kinn.
Aus seinen Taschen ragten Pinsel, und der Lieblingsbecher, in den er sie
eintauchte, hing ihm an einer Schnur um den Hals.
»Ich heiße Liu, mein
Vorname ist Pao, und ich fühle mich geehrt, den berühmten Meister Li willkommen
zu heißen«, rief er und verbeugte sich hektisch. Er bewegte sich mit
unkoordinierten Sprüngen und Sätzen, und sein fröhliches Lächeln wandte sich
ruckhaft mir zu. »Arme wie Holzklötze, Beine wie Baumstämme und kein Hals. Du
mußt Nummer Zehn der Ochse sein. Freut mich, dich kennenzulernen !«
Ich habe selten jemanden
getroffen, den ich auf den ersten Blick so sehr mochte. In seiner Gegenwart
fühlte ich mich ganz ungezwungen, und nach ein paar Minuten vergaß ich völlig,
daß er ein Prinz war, und sein Ur-Ur-Ur-und-so-wei-ter-Onkel Kaiser von China
gewesen war. Wir saßen auf einer Terrasse mit einem wunderbaren Blick über das
Tal und hörten den Backenhörnchen zu, die mit den Papageien zeterten, während
wir Tee tranken.
»Man sagt, mein
abscheulicher Ahne habe mit seinen verrückten Mönchen, im Mondlicht getanzt«,
bemerkte der Prinz. »Solche Geschichten sind keineswegs neu, aber diesmal
erzählt man mir, es habe tatsächlich einen Mord gegeben. Ich habe mir auch die
Verwüstungen auf der Prinzentrift angesehen. Ich habe sie gesehen, aber ich
glaube es nicht .«
»Ich würde es auch nicht
glauben, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, daß es eine vernünftige Erklärung
dafür gibt«, sagte Meister Li. »Und zu dem Mord kann ich nur sagen, man hat
sich gewaltsam Zugang zur Bibliothek verschafft und eine Handschrift gestohlen.
Bruder
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