Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
Vom Netzwerk:
und
die Sterne. Meister Li schimpfte monoton und griesgrämig vor sich hin, als die
feuchte Decke sich um uns legte und uns die Sicht nahm. Ich sah kaum die Hand
vor den Augen und stieß gegen Bäume und Felsen. Ich wußte nur, daß ich höher
und höher hinaufsteigen mußte. Ich erinnere mich vage daran, daß ich in
Felsspalten hinunterrutschte und auf der anderen Seite wieder hinaufkletterte.
Der Nebel war inzwischen so dicht, daß ich nichts mehr sah, und Meister Li
versuchte, mich zum Stehenbleiben zu bewegen. Ich konnte es nicht. Der
wunderbare quälende Ton war seit einiger Zeit verstummt, und ich mußte ihn
erreichen. Ich geriet immer wieder ins Rutschen und kletterte unverdrossen
weiter hinauf. Darauf möchte ich in aller Deutlichkeit hinweisen, weil dann
etwas Außergewöhnliches geschah.
    Ich war erschöpft. Ich
konnte nur noch kriechen, aber vor mir spürte ich etwas. Der Nebel begann sich
zu lichten. Ich sah ein Paar Sandalen, dann ein... zwei dünne Beine, einen
schmächtigen Körper und schließlich einen riesigen Kopf mit wirren Haaren.
Prinz Liu Pao starrte auf uns hinunter, als seien wir Gespenster.
    »Ochse? Nummer Zehn der
Ochse? Meister Li? Wie um alles in der Welt seid ihr...«
    Er verstummte und blickte
mit großen Augen auf den Pfad in seinem Rücken.
    »Ich habe Geräusche gehört
und bin hinausgegangen. Aber mich hat niemand überholt«, flüsterte der Prinz.
Der Nebel hob sich jetzt sehr schnell, und mit plötzlichem Erschrecken begriff
ich, warum der Prinz seinen Augen nicht traute.
    Ich habe die Lage seines
Anwesens nicht genau beschrieben. Der Drachenkopf, nach dem das Tal
ursprünglich benannt wurde, war ein kleiner Berg. Vor langer Zeit hat ihn eine
Naturkatastrophe gespalten, in das Linke Drachenhorn und das Rechte
Drachenhorn. Das Schloß stand auf dem Gipfel des Linken Drachenhorns, und
zwischen ihm und dem Zwillingsgipfel lag eine steile, etwa vierzig Fuß breite
und zweihundert Fuß tiefe Schlucht. Ich hatte meinen Aufstieg am Rechten
Drachenhorn begonnen, und da ich mich jetzt in der Nähe des Schlosses befand,
war es mir irgendwie gelungen, die Schlucht zu überqueren.
    Der Prinz starrte uns immer
noch fassungslos an. Ich kroch zur Schlucht und spähte über den Rand. Ich sah
eine nackte Steilwand und tief unten gezackte Felsen, dann wanderte mein Blick
langsam an der gegenüberliegenden Steilwand nach oben zu dem Platz, von dem ich
gekommen war. Unmöglich!
    »Ochse«, flüsterte Meister
Li beinahe unhörbar, »du hast zweifellos eine wundervolle Laufbahn als
Fliegenmensch beim Karneval vor dir. Aber versuch es um Buddhas willen nicht
noch einmal, wenn ich auf deinem Rücken sitze .« Wir
hörten schwach ein paar Schreie aus dem Dorf tief unten. Der wundervolle Ton
war verstummt, und der Prinz sagte, auch er habe ihn wie Meister Li nicht
gehört. In diesem Augenblick setzte ein Ton ein, den wir alle hörten: Die
Klosterglocken läuteten Sturm. Im nächsten Moment war ich auf den Beinen und
rannte mit Meister Li auf dem Rücken den Pfad hinunter, während Prinz Liu Pao
uns keuchend folg-
    Dörfler standen am
Klostertor und fürchteten sich, hineinzugehen. Wir drängten uns zwischen ihnen
hindurch. Der Abt kam uns entgegen und machte eine stumme verzweifelte Geste.
Ich rannte zur Bibliothek. Sie war geplündert worden. Jedes Buch und jede
Schriftrolle war aus den Regalen gezerrt und zerrissen worden. Jedes
Schreibpult war durchsucht und umgestürzt worden, und der Tisch des Bibliothekars
ähnelte einem Haufen Anmachholz. Meister Li rutschte von meinem Rücken, warf
einen prüfenden Blick auf die Verwüstung, drehte sich um, lief schnell durch
die Tür hinaus und einen der Gänge entlang.
    In der Zelle von Bruder
Blinzel, dem toten Bibliothekar, herrschte Chaos. Die wenigen Möbel waren kurz
und klein geschlagen. Man hatte das Futter aus den Gewändern gerissen. Der
Strohsack war zerfetzt, und auf dem Boden stand in Pfützen geronnenes Blut.
    Meister Li bückte sich,
tauchte einen Finger in das Blut und führte ihn an die Lippen. »Es ist nur
Tusche«, sagte er, »um genau zu sein, ist es Tusche, die als Buddhas Wimpern im
Handel ist. Und was da zwischen dem Stroh liegt, sind die Reste vom Pergament
Gelber Kaiser. Nachdem Bruder Blinzel die Ssu-ma-Fälschung durchgepaust hatte,
versteckte er das übriggebliebene Material in seinem Strohsack .« Meister Li lief rasch in die Bibliothek zurück. Noch
einmal glitten seine Augen über die Trümmer, und er ging zu einem großen

Weitere Kostenlose Bücher