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Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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Berg
Schriften neben den verbogenen Eisenstäben des Fensters, durch das die Diebe
wie beim ersten Mal eingestiegen waren. Er warf Schriftrollen beiseite und
richtete sich schließlich zornig und mit kalten Augen auf. »Ochse, wenn ich in
den nächsten Wochen tot umfalle, dann nicht aus Langeweile«, sagte er bitter.
    »Buddha rette uns«,
flüsterte der Prinz, während der Abt und die Mönche Zeichen schlugen, um böse
Geister zu vertreiben.
    Die Nachtwache des armen
Bruder Shang war nicht so einsam gewesen, wie er sich das gewünscht hätte. Der
Mönch lag zwischen den Papieren auf dem Rücken und starrte an die Decke. Er war
so tot wie Bruder Blinzel, und seine hervorquellenden Augen und der
offenstehende Mund waren für immer in einem Ausdruck des grenzenlosen
Schreckens und Entsetzen erstarrt.
    6.
    Von den nächsten Stunden
habe ich nur eine sehr verschwommene Erinnerung. Der Abt schickte Gruppen
verängstigter Mönche ins Dorf, um gleichfalls verängstigte Bauern zu befragen,
während Meister Li eilig eine Autopsie durchführte. Es mochte ein Gift geben,
das sich bereits nach wenigen Stunden nicht mehr nachweisen ließ. Aber Meister
Li entdeckte nur, daß Bruder Shang in hervorragender gesundheitlicher
Verfassung gewesen und einem Herzschlag erlegen war. Die Mönche kamen mit der
Nachricht zurück, daß mindestens acht Bauern geheimnisvolle Mönche in
Narrengewändern gesehen hatten, die lachend im Mondlicht tanzten und plötzlich
verschwunden waren, als habe die Erde sie verschluckt.
    Wir erfuhren noch etwas:
Wieder war ein Teil der Prinzentrift zerstört.
    Meister Li ließ seine
Messer neben der Leiche von Bruder Shang sinken und sagte, wir sollten jetzt
lieber ein paar Stunden schlafen. Es schienen nur Minuten vergangen zu sein,
als er mich wieder wachrüttelte und mir einen Becher mit starkem Tee reichte.
Dann machten wir uns auf den Weg zu Prinz Liu Pao. Er stand verloren auf der
Prinzentrift, und wir sahen wieder das Unmögliche: In einem Umkreis von
ungefähr fünfzig mal einhundertfünfzig Fuß lebte nichts mehr. Der Tod hatte
klare Grenzen gezogen. Blumen blühten neben anderen, die verwelkt waren, und
der Saft tropfte von gesunden Bäumen, die keine zehn Fuß von Bäumen standen,
die völlig vertrocknet waren. Wieder dachte ich an einen Friedhof in einem
Alptraum, aber irgend etwas in der Anordnung ließ mich
die Stirn runzeln, und ich zeichnete Formen in die Luft. Meister Li und der
Prinz beobachteten mich mit immer größeren Augen, und ich wurde rot. »Mach das
noch einmal«, befahl Meister Li. Ich wiederholte die Formen.
    »Li Kao, verliere ich den
Verstand ?« fragte der Prinz, »ich könnte schwören, daß
Nummer Zehn der Ochse die Gelehrtenkurzschrift der Großen Siegelschrift in die
Luft zeichnet, die seit tausend Jahren nicht mehr allgemein benutzt wird.«
    »Ochse ist zu den tollsten
Dingen fähig«, murmelte Meister Li. »Im Augenblick ist er fähig, die alten
Schriftzeichen für Liebe, Kraft und Himmel in die Luft
zu malen, und ich weiß genau, daß er nicht ein einziges Ideogramm der Großen
Siegelschrift kennt. Na, mein Junge, wie lange willst du uns noch auf die Folter
spannen ?«
    Ich wurde knallrot. »Ich
hatte einen Traum«, sagte ich bescheiden, »kurz ehe Ihr mich aufgeweckt habt.
Etwas an der Szene hier erinnerte mich daran und an die merkwürdigen Formen .«
    Ich hatte geträumt, daß ich
in der Nähe eines Dorfes, das meinem Dorf glich, im Gras saß. Jemand hatte
einen Bambusstab mit einer schwarzen Flagge am Riemen des Mühlsteins am
Wasserrad befestigt, wie wir es in meinem Dorf taten, weil die Riemen immer
rutschten. Wenn die Bauern bei der Feldarbeit aufblickten, sahen sie, ob sich
die Flagge auf-und abbewegte; wenn sie das nicht tat, schickte man einen Jungen
zum Großen Hong, dem Schmied, damit er die Riemen wieder richtete. Wenn die
Flagge sich zum Scheitelpunkt hob, sah man sie einen Moment in der Luft
schweben, ehe die Abwärtsbewegung begann.
    Am Wasserrad spielten
Kinder. Ein kleines Mädchen sprang auf und ab. Seine langen schwarzen Haare
hoben sich und schwebten einen Moment in der Luft, ehe sie ihr wieder auf die
Schultern fielen.
    Vor den Kindern flatterten
Schmetterlinge zwischen den Schilfgräsern. Ein schwarzer Schmetterling flog
hoch, flatterte kurz auf der Stelle und schwebte wieder nach unten. Die
schwarze Flagge, das schwarze Haar und der schwarze Schmetterling bildeten eine
beinahe gerade Linie, die auf meine Füße wies. Ich blickte hinunter und sah
eine

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