Meister Li und der Stein des Himmels
schon
seit Tagen. Als ich das Fragment betrachtete und die Hinweise auf Ssu-mas Vater
sah, sagte ich: Fälschung! Aber als ich mir die Schriftzeichen ansah,
sagte ich: Ssu-ma! Ihr habt genauso reagiert. Die Hand ist unverkennbar,
und ich komme zu dem Schluß, das hier ist ganz einfach deshalb nicht die
raffinierteste Fälschung der Welt, weil es überhaupt keine Fälschung ist.
Ssu-ma Chien schrieb den Namen seines Vaters, um Gelehrten zuzurufen: Sieh
hin! Sieh genau hin! Etwas stimmt nicht ! Das
heißt, er hat seine eigentliche Botschaft in einer Art Code geschrieben, und
Ihr und ich dürfen uns damit vergnügen herauszufinden, wer den Code als erster
entziffert.« Nummer Zehn der Ochse nicht; er konnte nicht einmal ein einziges
Schriftzeichen der alten Gelehrtenkurzschrift entziffern. Ich erhob mich und
schimpfte innerlich auf die Gesprächsfetzen, die an meine Ohren drangen. Die
beiden glichen spielenden Kindern, und wir mußten über ernste Dinge nachdenken.
»Ich habe noch nie so viele
Fehler in ein paar kurzen Absätzen gesehen .«
»Sind es vielleicht
absichtliche Fehler ?« »Fehler als Anhaltspunkte?«
»Interessant, wie viele
Fehler etwas mit Zahlen zu tun haben.«
»Ja. Hier schreibt er
einhundertsechsundvierzig Schuppen des Drachen .«
Selbst ich wußte, daß ein
Drachen 36 böse und 117 gute Schuppen hat, und als ich noch in die Schule ging,
ergaben
das 153 Schuppen. Ich rümpfte
verächtlich die Nase, spazierte herum und sah mir die Blumen an. »Wir zerlegen
die Zahl besser: 1, 4, 6 .«
»Jeder Fehler steht
vermutlich in einem direkten Zusammenhang zu jeder Erwähnung von T'an, dem
Namen seines Vaters .«
»Das hier ist etwas weit
hergeholt, nicht wahr? Er vergleicht die Spuren der Verwitterung auf einem
Stein mit den 253 Akupunkturpunkten .«
Hatten sie vergessen, daß
zwei Mönche ermordet worden waren und daß ein seltsamer Ton die Leute um den
Verstand brachte, während die Prinzentrift zerstört wurde? Ich köpfte ein paar
Löwenzahnblüten.
»Eins... zwei.. . drei. Ich
hab's«, rief Meister Li glücklich. »Ochse, hör auf zu schmollen und komm her .« Schmollen? Ich? Ich ging hocherhobenen Hauptes zum Tisch
zurück und blickte Meister Li über die Schulter. Sein Finger tanzte über das
Fragment.
»Kodierte Stellen beginnen
mit der Erwähnung von Ssu-mas Vater und gehen bis zum nächsten Fehler. Die
Zahlen geben die Auslassungen zwischen wichtigen Wörtern an, und damit erhalten
wir folgendes: Treppehinunter... Kühlraum... Tunnel zur Anlage... Stein im
Schrein .. . « Er lehnte
sich glücklich zurück.
Ich starrte ihn an. »Ist
das alles ?« fragte ich ungläubig. »Das ist alles, was
wir brauchen, und übrigens auch alles, was die Gauner brauchen«, sagte Meister
Li zufrieden. »Ssu-ma Chien bezieht sich auf dieses Anwesen, es sei denn,
jemand kennt einen anderen Ort, an dem ein Stein in einem Schrein aufbewahrt
wurde. Entweder war Ssu-ma selbst dort, oder er gab
einem anderen den Rat, die Treppe zum Kühlraum hinunterzusteigen. Dort würde er
irgendwo einen Tunnel finden, der zu einer Anlage und zum Schrein mit dem Stein
führt. Ein Kühlraum ist so weit wie möglich unter der Erde, aber was könnte der
Sinn einer Anlage tief unter der Erde sein ?«
Meister Li griff in sein
Gewand und holte einen Stoffetzen heraus. Leicht schockiert sah ich, daß es
sich um ein Stück Binde von der Mumie des Lachenden Prinzen handelte. »Prinz,
es ist zwar verblaßt, aber man kann immer noch das kaiserliche Gelb sehen, und
beim Bruder eines Kaisers sollte das auch so sein«, sagte Meister Li. »Soweit
ich mich jedoch erinnere, starb Tou Wan ein paar Monate vor ihm. Hätte Euer
Ahne nicht immer noch um seine Frau getrauert ?« Der
Prinz bekam große Augen und wurde dunkelrot, als ihm die Bedeutung dieser Frage
klar wurde. Ich brauchte dazu etwas länger.
»Natürlich. Es müßte weiß
sein. Ihr meint, ich habe das Skelett eines Fremden zertrümmert ?«
»Tsao Tsao hat
zweiundsiebzig Scheingräber bauen lassen«, sagte Meister Li sanft.
»Ich will verdammt sein,
wenn ich das zweiundsiebzigmal wiederhole«, schrie der Prinz.
»Vermutlich wird das nicht
notwendig sein«, beruhigte ihn Meister Li. Dann sah er mich an: »Wach auf,
Ochse. Der Lachende Prinz hat einen unermeßlichen Reichtum angehäuft, der nie
gefunden wurde. Seit seinem Tod kaufen die Leute falsche Schatzkarten und graben
Löcher im Tal der Seufzer. Jetzt haben wir die Worte von Ssu-ma Chien. Für
diese Worte würden Gauner alles
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