Meister Li und der Stein des Himmels
Gang
führte immer steiler und in vielen Kurven nach unten. Der Abstieg dauerte schon
so lange, daß ich gewettet hätte, daß wir die Talsohle bereits erreicht hatten
oder uns noch tiefer unter der Erde befanden. Schließlich verlief der Gang eben
und stieg nach etwa hundert Metern wieder langsam an. Wir gingen in völligem
Schweigen langsam nach oben und hörten nur unsere eigenen Geräusche. Nichts
wies auf Fallen hin. Schließlich sahen wir im Fackellicht eine Steinmauer vor
uns, die den Gang blockierte. Meister Li untersuchte sie und fand nichts
Gefährliches. Ich ging wieder mit Pickel und Brechstange an die Arbeit. Es war
eine doppelte Mauer, aber sie war dem Stahl nicht gewachsen. Krachend und in
einer Wolke von rotem Ziegelstaub brach ein großes Stück heraus. Wir husteten,
rieben uns die Augen, hielten die Fackeln hoch, und der Staub sank langsam zu
Boden. Wir standen wie angewurzelt da und starrten voll Entsetzen auf das, was
hinter der Mauer lag. Kein Wunder, daß der Tunnel ein Geheimnis geblieben war.
Die Arbeiter hatten ihn nie verlassen. Wir starrten auf Hunderte und
Aberhunderte von Skeletten, die sich beinahe bis zur Decke stapelten. Dem
Prinzen verschlug es angesichts des Mahnmals, das sein Ahne hinterlassen hatte,
die Sprache. Meister Lis Stimme klang kalt und zornig. »Soviel zu den Bauern.
Die Soldaten, die sie hineintrieben und dann einmauerten, wurden vermutlich mit
einem Festessen belohnt, bei dem keiner den zweiten Gang überlebte, und dann
erhielten die Giftmischer ihren Dank und so weiter. Man schätzt, daß Kaiser
Shun achtzigtausend Menschen tötete, um das Geheimnis seines Grabes zu wahren,
und trotzdem wurde es innerhalb von hundert Jahren entdeckt und geplündert.
Prinz, das sollte alle Eure Zweifel ausräumen. Euer geschätzter Ahne ruht
tatsächlich irgendwo hier unten .«
Er ging an mir vorbei und
schob die Skelette beiseite. Ich zwang mich, ihm zu folgen. Die Haufen weißer
Knochen türmten sich wie Schneehalden am Straßenrand, während wir uns langsam
einen Weg durch den Tunnel bahnten. Nach einer Stunde erreichten wir
schließlich das Ende und standen wieder vor einer glatten Mauer. Mit drei
Pickelschlägen konnte ich die Ziegelsteine lockern, aber dann traf mich ein
Schock, der meine Hände und Arme gefühllos machte. Der Pickel war gegen
massives Eisen geprallt. Ich versuchte es an immer neuen Stellen, schlug
Ziegelsteine heraus und stellte fest, daß die Eisenplatte nahtlos von einer
Seite zur anderen und vom Boden bis zur Decke reichte. »Vermutlich befindet
sich dahinter eine zweite Ziegelmauer, und man hat geschmolzenes Eisen in den
Zwischenraum gegössen«, sagte Meister Li nachdenklich. »Ochse, was meinst du ?«
Ich zuckte mit den
Schultern. »Eisen ist hart, aber es reißt, und mein Pickel ist aus Stahl«,
erwiderte ich. »Wenn es mir gelingt, vier Löcher zu schlagen, müßte es möglich
sein, ein so großes Stück herauszutrennen, daß wir durch die Öffnung
hindurchkriechen können .«
Danach erinnere ich mich
nur noch an den Lärm im Gang. Die Brechstange machte harte durchdringende
Geräusche, deren Echo zwischen den engen Wänden hin und her sprang und so
heftig gegen meinen Kopf und die Ohren prallte, daß mir übel wurde. Ich mußte
immer wieder aufhören und mich mit dem Kopf zwischen den Beinen auf den Boden
setzen, bis mein Magen sich wieder beruhigt hatte. Ich bekam fürchterliche
Kopfschmerzen, aber allmählich fand ich den langsamen gleichmäßigen Rhythmus
eines Spechts oder eines Kanalgräbers, und unter der Spitze der Brechstange
erschienen Risse wie die Fäden in einem Spinnennetz. Dann lösten sich kleine
Eisensplitter, und schließlich stieß die Stange durch das Eisen hindurch. Wie
Meister Li vermutet hatte, befand sich dahinter die zweite Ziegelsteinmauer,
aber sie verursachte keine Probleme. Die anderen Löcher schlug ich schneller,
denn inzwischen hatte ich ein Gefühl dafür, und nach etwa drei Stunden gelang
es mir, das Eisen zwischen zwei Löchern aufzureißen, und eine weitere Stunde
später war das Werk vollbracht. Wir krochen durch die enge Öffnung, und als wir
die Fackeln hoben, blickten wir auf eine goldene Decke. Der Boden bestand aus
Marmor, und die Wände waren reich mit Silber und Bronze verziert. Wir befanden
uns in einem langen Gang, an dem rechts und links Räume lagen. Nervös
umklammerten wir unsere Waffen und betraten den ersten.
Kein Wunder, daß Verbrecher
alles unternahmen, um diesen Platz zu finden. Truhen quollen
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