Meister Li und der Stein des Himmels
sagte er. »Sieh dir das an. Alle Gesetze der
Malerei behaupten nachdrücklich, daß shih, die Kraft der Bewegung eines
Baumes wie diesem hier, sich im Hauptast konzentrieren muß, der so stolz zum
Himmel weist. Aber so ist es nicht. Ich habe die vorgeschriebene Methode
achtmal probiert, und der Baum blieb so leblos wie ein Lohan. Schließlich sagte
ich mir: Du Idiot, hör doch auf zu denken! Male! Also überließ ich
meiner Hand den Pinsel, und dieser schöne Baum wurde lebendig. Siehst du,
weshalb ?« Der Prinz deckte den stolzen Hauptast ab,
und nach einer Weile sah ich, was er meinte. Die Energie des Baums nahm nicht
diesen Weg. Sie ging vom Stamm aus, stieg aufwärts, erreichte einen Astknoten,
strömte den Stamm wieder hinunter, erhob sich dann auf der anderen Seite und
pulsierte vor Leben, als sie sich in einem winzigen, unbedeutenden Ast, der
kaum mehr als ein Zweig war, zum Himmel hinauf reckte.
»Gesetze lügen. Die Augen
sehen nur, woran man sie gewöhnt hat, und das Bewußtsein ist ein Abfallhaufen
der Gedanken anderer«, sagte der Prinz. »Nur die Hand spricht die Wahrheit. Die
Hand !« rief er leidenschaftlich. »Vertrau der Hand,
und sie wird dich nie belügen .« Meister Li sah ihn
zustimmend an. »Prinz, genau darüber wollte ich mit Euch reden«, sagte er. »Ich
ahne allmählich, daß in diesem Fall Lüge auf Lüge gehäuft wurde, aber wir haben
zum ersten Mal etwas, an das wir uns halten können. Versteht Ihr, die Gauner
haben uns verraten, wo wir suchen müssen .«
Der Prinz zeigte mir, wo
alles stand, und ich ging daran, Tee zu machen, während die beiden einen Tisch
in den Garten hinaustrugen. Wir setzten uns, und nachdem Meister Li seinen Tee
getrunken hatte, sagte er:
»Wir wissen, daß die Diebe
in die Bibliothek eingebrochen sind, um eine Schriftrolle zu stehlen, und das
führte zum Tod von Bruder Blinzel. Aber warum sind sie letzte Nacht wieder
eingebrochen und haben den Tod von Bruder Shang verursacht? Es scheint nur eine
vernünftige Erklärung zu geben .« Meister Li zog das
Fragment von Ssu-ma hervor. »Bruder Blinzel hat es durchgepaust. Als die Diebe
es genauer untersuchten, sahen sie die Abdrücke, und sie sind gekommen, um das
Original, also die Fälschung zu holen. Deshalb zerrissen sie die Bücher und
trennten die Gewänder auf und so weiter. Aber warum wollten sie unbedingt eine
schlechte Kopie, die keinen Marktwert besaß? Die Antwort lautet: Sie wollten
den Text nicht, weil er einen Wert für Händler besessen hätte, sie wollten ihn
wegen des Inhalts, und vielleicht -aber natürlich nur vielleicht - sind
sie mit leeren Händen abgezogen .«
Meister Li legte das
Fragment auf den Tisch und klopfte mit dem Fingernagel darauf.
»Es war ein sehr kurzer
Text«, sagte er. »Die Wahrscheinlichkeit, daß dieses Fragment enthält, was sie
gesucht haben, ist nicht so unglaublich gering, wie man vermuten könnte.
Vielleicht stehen die Chancen sogar nur zwanzig oder dreißig zu eins, und ich
habe bei Grillenkämpfen schon unter ungünstigeren Aussichten gewettet und
gewonnen. Prinz, hat Ssu-ma Chien je Euren abscheulichen Vorfahren besucht ?« Der Prinz sah ihn überrascht an. »Das weiß ich wirklich
nicht«, erwiderte er. Aber nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: »Es würde mich
etwas überraschen, wenn er es nicht getan hätte. Ehe er in Ungnade fiel, war er
der Ratgeber des Kaisers, und wer eignet sich besser, um ihn zu einem jüngeren
Bruder zu schicken, bei dem alles darauf hindeutet, daß er den Verstand
verliert?«
»Wäre es möglich, daß der
jüngere Bruder den Sturz von Ssu-ma und das Urteil der Kastration bewirkt hat ?« überlegte Meister Li laut. »Der Abt hat mir erzählt, daß
in den heiteren Tagen des Lachenden Prinzen das Kloster neben vielem anderen
auch als Gefängnis gedient hat. Wäre das vielleicht eine Erklärung dafür, daß
man die Schriftrolle dort gefunden hat ?«
»Die Fälschung ?« sagte der Prinz und kratzte sich am Kopf.
»Einer meiner Bekannten,
ein außergewöhnlich heiliger
Mann am Auge der Stille hat
eine interessante Hypothese«, sagte Meister Li. »Die Fälschung wurde vielleicht
benutzt, um Ssu-ma verräterischer Pietätlosigkeit zu beschuldigen. Dieser
Gedanke hatte mich beinahe überzeugt, aber dank Euch, Prinz, bin ich inzwischen
von etwas völlig anderem noch mehr überzeugt.«
Meister Li deutete auf das
Atelier mit den wunderbaren Bildern des Prinzen. »Die Hand. Vertrau nur der
Hand !« rief er. »Dieser Gedanke beschäftigt mich
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