Meister Li und der Stein des Himmels
Tor der Schönen Aussicht.
Mir erstarrte das Blut in den Adern. Dahinter lag die Geheimdienstzentrale,
umgeben von Strohpuppen, denen man die Häute korrupter Beamter übergezogen
hatte. (Der Kaiser säuberte seit der Thronbesteigung unermüdlich die Reihen,
und Meister Li billigte T'angs Vorgehen.) Glücklicherweise strebte Meister Li
einem kleineren Palast daneben zu, und auf mich wartete die Begegnung mit einer
legendären Dame. Das Oberhaupt der Prostituierten ist die mächtigste Frau in
China, wenn nicht eine Kaiserin auf dem Thron sitzt. Ihre Gilde ist Herz und
Seele der Spionage. Sie ist beinahe allein dafür verantwortlich zu erforschen,
was in den Köpfen der rätselhaften Barbaren vorgeht. Ein ständiger Strom von
Kurieren galoppiert mit verschlüsselten Botschaften zur Lauschigen Laube Kluger
Gesellschafterinnen in Hangchow oder der Sonnenresidenz in Loyang oder zum
Pavillon Wachsender Vollkommenheit in Peking. Und so mancher Mächtige hat sein
Bett und seine Geheimnisse mit einer jungen Dame geteilt und beim Aufwachen
entdeckt, daß die Dame verschwunden war. An ihrer Stelle lag ein amtlicher
Postsack, der den gelben Schal enthielt.
Ich rechnete mit einer
langen Wartezeit bis zur Audienz, aber Meister Li präsentierte seine
Geschäftskarte, und man führte uns nach wenigen Minuten geradewegs zu der hohen
Dame. Sie war groß und im mittleren Alter, aber sehr schön. Ihre Stimme hatte
den Klang eines kostbaren Musikinstruments.
»Erhabenster und
ehrwürdigster aller Weisen«, sagte sie und verbeugte sich dabei bis zum Boden.
»Schönste aller irdischen
Göttinnen«, schnurrte Meister Li mit einer ebenso tiefen Verbeugung.
In dieser Art ging es
mehrere Minuten. Dann wurde Tee aufgetragen, und ich saß wie ein Elefant im
Porzellanladen, während die beiden das Pingpong der Pointen spielten. Ich habe
nie verstanden, weshalb völlig vernünftige Leute ihre Zeit damit verschwenden,
auf witzige Weise unverständlich zu sein, anstatt einfach zu sagen, was sie
wollen, und wieder an die Arbeit gehen. Das Oberhaupt der Prostituierten begann
das Spiel, indem sie ein paar Blütenblätter auf den goldenen Tee streute.
»Teurer Freund, diese
Blüten werden aus Einsamkeit sterben, denn ich stelle fest, daß mir die
Schmetterlinge fehlen«, sagte sie wehmütig. Meister Li fing den Ball in der
Luft auf. »Ach! Keine Blüte ist vollständig ohne die Gesellschaft von
Schmetterlingen. So wie Hügel Quellen und wie Felsen Moos haben müssen«, sagte
er.
»Was ist ein Bach ohne
Wasserkresse? Was sind hohe B ä ume ohne Schlingpflanzen? Was sind M ä nner ohne den Geist von I ,i Kao? « fl ö tete sie melodisch.
Meister Li verbeugte sich
bei diesem Kompliment. »Keine Frau«, sagte er und strich ihr zart mit der
Fingerspitze über das Handgelenk, »ist vollständig ohne den Reiz einer Blüte,
die Stimme eines Vogels, die Haltung der Weide, die Kno-chen aus Jade, die Haut
aus Schnee, den Zauber eines Herbstsees, das Herz der Poesie und die Seele
meiner schönen Gastgeberin.«
»Unbesiegbarer Charmeur«,
sagte sie mit einem Seufzer. Sie senkte den Blick zu dem alten, faltigen Finger
auf ihrem zarten Handgelenk. »Die Leidenschaft, teurer Freund, entblößt nur den
Hintern des Universums«, sagte sie tadelnd. »Dann ist es die Aufgabe des
Dichters, ihm ein neues Kleid zu geben !« rief Meister
Li. »Soll ich von Bergen singen, die in Wolken gehüllt, oder von Kiefern, die
in Wind gekleidet, oder von Weiden, die mit Regen geschmückt sind, oder von
Terrassen, die ein Gewand aus Mondstrahlen tragen?« Das Oberhaupt der
Prostituierten goß Tee nach und streute frische Blütenblätter darüber. »Die
Kleidung muß wohl bedacht sein«, sagte sie, »manchmal läßt sie sich zu leicht
entfernen, dann wieder überhaupt nicht. Grüne Hügel spiegeln sich im Wasser, das
seine Farbe den Hügeln entleiht. Guter Wein bringt Dichtung hervor, die ihre
Schönheit dem Wein entleiht .«
»Und eine schöne Frau«,
gurrte Meister Li, »gleicht einem Gedicht darin, daß man sie am besten leicht
betrunken betrachtet. Wenn ein schlichter Mann sich die Gedankengänge einer
schönen Dame zu eigen machen darf, nehmen weiße Wolken
viele Farben an, wenn sie Sonnenstrahlen brechen, und ruhige Ströme werden zu
Wasserfällen, wenn sie über eine Klippe fließen. Die Dinge nehmen die
Eigenschaften der Umgebung an, und deshalb ist Freundschaft so wertvoll, und
deshalb muß man seine Freunde so sorgsam wählen .« Sie
streichelte seine faltige Hand.
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