Meister Li und der Stein des Himmels
»Praktisch gehört der ganze Kram Euch.
Wollt Ihr ihn ?« Der Prinz erwiderte schaudernd: »Wenn
ich auch nur eine einzige Münze nähme, würden mich Alpträume innerhalb eines
Monats ins Grab bringen .«
»Trotzdem, wenn etwas von
der Entdeckung bekannt wird, werdet Ihr Besuch von jedem Verbrecher, Heerführer
und raffgierigen Staatsminister im Reich bekommen«, sagte ihm Meister Li
voraus.
»Angenommen, ich schenke es
dem Thron ?« sagte der Prinz hoffnungsvoll.
»Die Menschen neigen dazu,
die eigenen Fehler anderen zu unterstellen«, sagte Meister Li, »die habgierigen
werden nie glauben, daß Ihr nicht die kostbarsten Stücke für Euch selbst
behalten habt. Man wird das fehlende Jadegewand Eures Ahnen als absolut sicheren
Beweis dafür ansehen. Sehnt Ihr Euch nach der Folter ?«
Der Prinz wurde so weiß wie
eines der Skelette. »Was kann ich denn mit dem Grab tun ?« flüsterte er. Meister Li wandte sich an mich. »Ochse, schaffst du es ?« fragte er.
Ich richtete mich stolz
auf. »Ehrwürdiger Meister, Ihr habt den ehemaligen Lehrling von Großer Hong,
dem Schmied, vor Euch«, sagte ich.
Er wandte sich wieder an
den Prinzen. »Was für ein Grab ?« sagte er.
»Was für ein Grab ?« fragte ich.
Der Prinz bekam wieder
etwas Farbe. »Was für ein Grab?« Es war wirklich nicht sehr schwierig. Die
Steine und die Ziegelsteine befanden sich bald wieder an ihrem Platz, und
überall auf dem Anwesen lagen zahllose alte Dinge aus Eisen. Ich war sehr stolz
auf meinen improvisierten Schmelzofen und den Blasebalg. Nach vollendeter
Arbeit bezweifelte ich, daß jemand die ausgebesserte Stelle in der Eisenwand
entdeckt hätte, wenn er nicht danach suchte. Schwierig wurde es erst, als ich
die Skelette in dem Tunnel wieder an den alten Platz schaffte, denn ich hörte
auf Schritt und Tritt eine wahnsinnige Mumie im Jadegewand, die sich von hinten
an mich heranschlich. Ich vollendete mein Werk mit kunstvoll verteiltem Staub
und Spinnweben, und kein raffgieriger Beamter im ganzen Reich hätte geglaubt,
daß Prinz Liu Pao oder ein anderer das Grab des Lachenden Prinzen betreten
hätte. Dann machten wir uns auf den Weg nach Ch'ang-an.
9.
Ich war noch nie in
Ch'ang-an gewesen, aber nach meinen Erfahrungen in Peking glaubte ich, Großstädte
zu kennen. Die Illusion wurde mir genommen, als wir durch das Tor der
Leuchtenden Tugend schritten. Wie ein dummer Bauer starrte ich mit offenem Mund
auf einen lärmenden Bienenstock, dessen zwei Millionen Bewohner geschäftig
innerhalb von Mauern summten, die dreißig Quadratmeilen umschlossen. Es gab
fünfundzwanzig von Ulmen, Obst- und Schnurbäumen gesäumte Prachtstraßen, die
von Norden nach Süden verliefen. Jede war 480 Fuß breit. Diese Alleen zogen
sich einen hohen Hügel zur sogenannten Drachenkopfebene hinauf, wo sie sich zu
einer einzigen Straße aus bläulichem Stein vereinten, die sich wie ein
Drachenschwanz zu den riesigen Palästen der Elite weiter nach oben wand, die
über das Reich herrschte.
Ich verstummte vor
Ehrfurcht, als wir uns auf der Straße des Scharlachsperlings der
Drachenkopfebene näherten. Wir schritten gerade durch das Tor des Roten Vogels,
als die dreihundert Schläge der Tausend Trommeln erklangen, die die Öffnung der
Märkte verkündeten. Benommen von der Atmosphäre tausendjähriger Größe, ging ich
an Meister Lis Seite auf die legendäre Hinterwald-Akademie zu, wo der Genius
Chinas gepflegt wird. Meister Li war eines der Genies gewesen, und sein
Verhalten ließ etwas an Ehrerbietung zu wünschen übrig.
»Lug und Trug, mein Junge!
Alles Lug und Trug«, sagte er und wies mit einer angewiderten Geste auf die
geheiligten
Wahrzeichen. »Die Fäulnis
wird mit Farbe übermalt und mit Liigen vergoldet. Manche Lügen sind allerdings
sehr hübsch. Am besten gefällt mir die von dem kleinen Bauernjungen, der hinter
der Dorfschule einen Graben gräbt .« Meister Li zog den
Weinschlauch hervor und trank mit großsen Zügen, was zu empörten Bemerkungen
der vornehmen Passanten führte. Er achtete nicht darauf.
Der Kleine hört mit seinen
scharfen Ohren bruchstückhaft durch das Fenster den Unterricht mit«, erzählte
Meister Li rülpsend, »eines Tages fällt der Lehrer gedankenverloren in den
Graben und entdeckt zu seinem Erstaunen, daß der Junge die Wände mit
meisterhaften Zeichnungen, fehlerlosen mathematischen Berechnungen und
gelehrten Zitaten der Alten bedeckt hat.
Bist du nicht der
verlauste, krätzige und blöde kleine Hong Wong ? fragt der
Weitere Kostenlose Bücher