Meister Li und der Stein des Himmels
paar
Götter vom Himmel flogen und zum Tee zu ihm kamen. Zu Tee und Mandarinen, denn
die Vorliebe für Mandarinen war seine einzige Schwäche. Sein Volk freute sich
darüber, daß er sich nicht für Dinge interessierte, mit denen Kaiser sich
üblicherweise unterhalten, etwa Kriege oder Massenmorde .«
»Li Ling-chi wurde ein
immer besserer und besserer Mensch«, fuhr ich fort. »Er wurde so gut, daß er
den Anblick des Bösen nicht mehr ertragen konnte. Deshalb ließ er sich von
seinen Goldschmieden einen Kopfschmuck mit einem Schleier aus zweihundertachtundachtzig
Juwelen machen. Und da er es auch nicht ertragen konnte, das Böse zu hören,
machten ihm die Goldschmiede auch noch juwelenbesetzte Ohrenschützer. So sah er
nur hübsche, glänzende Dinge und hörte nur: klingelingeling. Eine Ausnahme
bildeten die Feste, denn dann nahm er zum Tee mit den Göttern den Kopfschmuck
ab .«
»Sie tranken Tee und aßen
Mandarinen. Aber eines Tages gab es keine Mandarinen«, erzählte Mondkind. »Der
Kaiser geriet außer sich vor Zorn. Wie kann ich Tee trinken, ohne
Mandarinen zu haben ? rief er. 0 Sohn des
Himmels, erwiderte der Haushofmeister. Es ist Winter, und im Winter
wachsen keine Mandarinen in Euren Gärten . Aber der
Kaiser ließ sich nicht täuschen. Im letzten Winter hatte ich Mandarinend
schrie er. 0 Sohn des Himmels, erwiderte der Haushofmeister, im
letzten Winter waren die Straßen frei. Aber in diesem Winter hat es heftige
Schneestürme gegeben, und Waren aus dem Süden, wo es immer noch Mandarinen
gibt, können nicht in die Hauptstadt gebracht werden . Der Kaiser wurde dunkelrot. Du willst mir sagen, daß meine Untertanen im
Süden in Mandarinen schwelgen, während ihr Kaiser nicht eine einzige essen
kann? Das wird sich ändern! tobte er .«
»Kaiser Li Ling-chi sprang
auf seinen Thron«, sagte Klagende Morgendämmerung. »Er war so gut geworden, daß
sich nach einer auffordernden Geste alles Grüne im Süden aus der Erde löste und
nach Norden flog, um von ihm gesegnet zu werden. Im Handumdrehen wuchsen mitten
im Winter in der Hauptstadt Mandarinen. Die Götter kamen zum Tee und riefen
entsetzt: Hör auf, hör auf ! Aber der Kaiser
trug immer noch seinen Kopfschmuck und hörte nur klingelinge-ling. Die Götter
schickten Kometen, Erscheinungen und Omen, aber er sah nur hübsche funkelnde
Juwelen. Inzwischen gab es im Süden nichts mehr zu essen. Die Bauern begannen
zu verhungern, und die Leichen türmten sich in den Gräben, ganz wie nach
Kriegen und Massenmorden .« »Der Erhabene Jadekaiser
blickte von seinem Thron herunter«, sagte ich. »Sein zorniger Aufschrei
schüttelte alle Mandarinen von den Bäumen des Kaisers. Dann flog der Erhabene
Jadekaiser vom Himmel zur Erde und zwang Li Ling-chi, jede einzelne
herabgefallene Mandarine zu essen. Der Kaiser wurde so rund und dick wie das
Transzendente Schwein. Dann machte der Erhabene Jadekaiser eine befehlende
Geste, und alles Grüne flog in den Süden zurück, wohin es gehörte. Er packte
den Kaiser und schleuderte ihn hoch in die Luft, aber durch all die vielen
Mandarinen geriet der Kaiser auf eine schiefe Bahn, und deshalb sehen wir ihn
bis auf den heutigen Tag .«
»Alle fünfundsiebzig
Jahre«, sagte Mondkind, »können die Bauern am Himmel einen strahlenden Kometen
sehen, der sich der Erde nähert. Das Orange kommt von all den Mandarinen im
Bauch des Kaisers, und der funkelnde Schweif sind der Juwelenschleier und die
Ohrenklappen. Und wenn man ganz, ganz genau hinhört, hört man das Stöhnen eines
Kaisers mit schrecklichem Bauchweh .« Dann riefen wir
alle drei im Chor:
»Auu! Auu! Auu! Ich
halt's nicht mehr aus!
schreit Ling-chi, voll
Jammer und Graus.
Die Kerze blasen wir
jetzt aus,
und kleine Kinder dürfen
nicht mehr
aus dem ... Haus!
Lieb und nett, gehen sie
ins Bett .«
Wir saßen da und kamen uns
ziemlich albern vor. Meister Li verputzte noch ein paar Heuschrecken und nahm
einen Schluck aus seinem Weinschlauch.
»Dieses Märchen beschäftigt
die Gelehrten schon seit Jahrhunderten«, sagte er. »Zum Teil beruht die
Geschichte auf dem Kaiser Huang Ti, der tatsächlich versuchte, sich die
Wirklichkeit mit einem Juwelenschleier und Ohrenschützern fernzuhalten. Aber
vielleicht bezieht sich alles andere auf eine Eroberung des Südens durch den
Norden oder auf eine seit langem vergessene Seuche in alter Zeit. Wer weiß!
Einige Gelehrte behaupten, aus diesem Märchen spreche die Erinnerung an das
sehr seltene Phänomen einer plötzlichen
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