Meister Li und der Stein des Himmels
den anderen Werkzeugen, und der Prinz half mir, eine Strickleiter
zu befestigen. Meister Li gab mir eine Fackel, ich nahm mein Messer zwischen
die Zähne und kletterte hinunter. Dabei kam ich mir wie ein Pirat vor. Die
Leiter war gerade lang genug. Ich stand in einer kleinen Höhle, in die ein
enger Gang mündete. Im Fackellicht entdeckte ich einen uralten Holztisch und
zwei Bänke. Aus dem Fels war ein Steinsims gehauen. Ich preßte die Augen
zusammen und betete. Dann leuchtete ich mit der Fackel langsam die Höhle ab.
Ich will gestehen, daß ich
gebetet hatte, ich würde ein dreizehnjähriges Mädchen mit feurigen Haaren
finden, das in einem siebenhundertfünfzigjährigen Schlaf lag. Ich war sehr
enttäuscht, als ich es nicht fand. »Kommt runter«, rief ich nach oben.
Meister Li, der Prinz,
Klagende Morgendämmerung und Mondkind standen kurze Zeit später bei mir in der
Höhle. Sie entzündeten ihre Fackeln, und im hellen Lichtschein konnten wir uns
davon überzeugen, daß die dicke Staubschicht auf dem Boden unberührt war.
Vorsichtig gingen wir durch den Gang und gelangten in eine sehr viel größere
Höhle. Hier hatte jemand Bogenschießen geübt; ich hätte schwören mögen, daß der
Schütze ein Junge oder ein Mädchen gewesen war. Überall steckten Pfeile, selbst
in der Decke, deren Balken auf alten Stützpfählen ruhte. Hier gab es ein altes
Schreibpult. Links davon befand sich ein langer Tisch, und rechts standen ein
paar messingbeschlagene Truhen. Die Truhen waren leer. Vor dem Schreibpult war
eine große Eisenplatte in den Steinboden eingelassen. Meister Li betrachtete
sie nachdenklich und rieb sich die Nase. »Sieht nach einer Zahlmeisterei aus«,
sagte er. »Die Aufseher und Vorarbeiter standen vor dem Pult, um ihren Lohn zu
erhalten, und der Lachende Prinz war für seine lustigen Einfälle bekannt .« Er trat hinter das Pult, suchte und zog an einer Art
Griff. Ich sprang entsetzt zurück. Die Platte teilte sich mit einem schrillen
Quietschen, und die beiden Hälften klappten an Scharnieren nach unten. Wo
vielleicht einmal ein Aufseher gestanden hatte, gähnte ein schwarzes Loch.
Vorsichtig ging ich am Rand auf die Knie und hielt meine Fackel hinein. Das
Licht drang nicht bis auf den Grund. Ich entdeckte einen gesplitterten alten
Holzpfahl, zündete ihn an und warf ihn in die Grube. Die Flamme drohte zu
erlöschen, flak-kerte aber wieder auf, und uns stockte der Atem. Das Holz war
tief unten auf zerklüfteten spitzen Felsen zwischen zwei zerschmetterten
Körpern gelandet. Es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, daß es keine alten
Skelette waren wie die im Gang. Man sah noch Haare, vertrocknete Haut, und die
Kleider der beiden Leichen waren beinahe unversehrt.
»Das ist höchstens zwanzig
oder dreißig Jahre her«, murmelte Meister Li.
»Dreiunddreißig«, flüsterte
der Prinz leichenblaß und mit verzerrtem Gesicht. »Sie haben mit mir gespielt.
Ah Cheng und Wu Yi. Sie waren Gärtner. Ich durfte bei ihnen auf dem
Wasserbüffel reiten, Mist schaufeln und alle möglichen interessanten Dinge tun,
die nicht erlaubt waren. Eines Tages waren sie verschwunden, und man hat sie
nie mehr gesehen .«
Meister Li betastete
vorsichtig eine der Bänke am Tisch. Als er sich setzte, wirbelte er eine
Staubwolke auf. Er betrachtete nachdenklich das Loch. »Eine gestohlene Handschrift«,
murmelte er leise, wie zu sich selbst. »Zwei tote Mönche, ein unheimlicher Ton,
Bäume und Pflanzen, die plötzlich absterben ... Hat die Ermordung von zwei
Gärtnern vor dreiunddreißig Jahren auch etwas damit zu tun? Haben die Gärtner
den Eingang in der Schlucht gefunden und sind hierher gekommen? Wenn ja, was
haben sie gesehen oder gehört, was sie zum Tode verurteilte? Wenn damals
unangenehme Kerle im Narrenkleid etwas damit zu tun hatten, erhärtet das die
Theorie, daß hinter allem eine Art religiöser Kult steckt, mit dem man den
Stein des Lachenden Prinzen verehrt und möglicherweise eine Tradition lebendig
erhält, die bis zu seinen Munteren Mönchen zurückreicht.« Meister Li sprang
auf. »Das ist nur ein erster Blick«, sagte er. »Das nächste Mal kommen wir
lieber bewaffnet herunter. Glücklicherweise werden uns die Spuren im Staub
verraten, ob jemand nach uns hier war. Machen wir noch einen kleinen
Erkundungsgang .«
Auf drei Seiten der Höhle
gingen Gänge ab, die alle abgestützt waren. Überall standen uralte Pfeiler und
Balken, von denen man befürchten mußte, sie würden zusammenbrechen, wenn man
laut
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