Meister Li und der Stein des Himmels
Wolken beiseite
schoben, am Mond vorbeiflogen, sich mit dem strahlenden Glanz der Sterne im Großen
Fluß vereinten und mit ihnen jubilierten. Dann schwebten sie in den Himmel und
tanzten mit den Göttern. Der letzte Ton verweilte, veränderte unmerklich Höhe
und Farbe und sank allmählich wieder zur Erde herab. Die klare Stimme reihte
sich in die Wunder ein, die man in Regentropfen und in den sprudelnden Bächen
des Frühlings findet, in den trägen, sanften Tönen des Sommers und den frischen
reinen Lauten des Herbstes. Wind heulte, und Schnee fiel, aber Klagende
Morgendämmerung sang von einem dampfenden Kessel und einem kochenden Topf in
der sicheren behaglichen Kate, wo eine alte Frau in ihrem warmen Bett lag. Die
Töne schwebten tiefer, wurden weicher und endeten in einem flüsternden
Schlaflied. Der letzte Ton versank in der Stille.
»Tut mir leid, Tai-tai«, hauchte
Klagende Morgendämmerung, »ich kann nicht mehr singen. Es tut weh, so zu
singen. Es ist schön, aber es ist falsch. So falsch wie Stehlen.« Ihr Kopf sank
zurück. Das Herz schlug noch, aber sie hatte das Bewußtsein verloren.
Wir sahen uns schweigend an.
Der König von Chao erhob sich und ging zu seinem Streitwagen. Mit leichten
Schlägen seiner riesigen Hände und sanften Worten beruhigte er die zitternden
Pferde. Die Goldenen Mädchen bildeten eine Gasse, und er ging zu ihrer
Anführerin.
Meng Chang war tot. Sie lag
auf dem Gesicht, mit den Händen unter dem Körper, und die Schwertspitze ragte
aus ihrem Rücken. Der König zog das Schwert heraus und trocknete das Blut mit
seinem Mantel. Er nahm sie auf die Arme, bestieg seinen Streitwagen und setzte
sich mit der Leiche im Schoß auf das Polster. Aus einer kleinen Truhe zogen die
Goldenen Mädchen ein weißes Tuch, legten es ihm zum Zeichen der Trauer über den
Kopf, und eine griff nach den Zügeln. König Shih Hu und seine Goldenen Mädchen
ritten davon, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, und ich habe sie nie wieder
gesehen.
*
Klagende Morgendämmerung
war härter als der Kehsistahl aus Hsingchou. Meister Li konnte durch Umschläge
mit ekelerregender schimmliger Baumrinde eine Infektion verhindern. Klagende
Morgendämmerung klammerte sich mit all ihrer Kraft ans Leben, aber durch das
Fieber begann sie zu halluzinieren, und ich hatte den Eindruck, daß sie die
Geschichte von Wolf und eigene Erlebnisse durcheinanderbrachte. In ihrer uns
verschlossenen Welt rannte sie mit jemandem, und es war ein verzweifeltes
Rennen. »Schneller... Du mußt schneller rennen«, keuchte sie, »wo ist die
Stelle...? Hinter der Ziegenstatue... Da, der Rabe und der Fluß ...
Schneller... schneller... Hier entlang! Schnell !... Soldaten... versteck dich, bis sie vorbei sind ... Jetzt lauf! Lauf !«
Im Fieber rannte sie nicht
immer um ihr Leben, und ich erinnere mich an das verblüffte Gesicht von Meister
Li, als sie sich unruhig im Bett hin und her warf und flehte: »Herrin, muß ich
wirklich zu Chien?« Sie rümpfte vor Abscheu die Nase. »Dort stinkt es so, die
Bootsleute machen unanständige Witze über Damen, und der alte Einbeinige
versucht immer, mich zu zwicken .«
»Wie ?« fragte Meister Li. Er ging hinüber und wischte ihr den Schweiß von der Stirn.
»Liebes, was sollst du bei Chien für deine Herrin besorgen ?« fragte er freundlich. Sie rümpfte wieder die Nase. »Rhinozeroshäute.« »Und wo
ist Chien ?« fragte er.
»Ungefähr in der Mitte
zwischen dem Kanal und dem kleinen Ch'ing-hu-See«, erwiderte Klagende
Morgendämmerung.
Meister Li stieß einen
Pfiff aus und ging im Zimmer auf und ab. Dann kehrte er zum Bett zurück.
»Liebes, schickt dich deine
Herrin manchmal auch zu Kang Nummer Acht ?« fragte er
scherzhaft.
Klagende Morgendämmerung
lächelte. »Kang Nummer Acht gefällt mir«, sagte sie. »Wo ist das ?«
»In der Straße der
abgegriffenen Münze«, antwortete sie.
»Und was kaufst du dort ?«
»Hüte .«
»Hüte. Ja natürlich. Und wo
kaufst du die bemalten Fächer für deine Herrin ?« »An
der Kohlenbrücke.«
»Vermutlich kaufst du für
sie auch das berühmte gekochte Schweinefleisch bei .. .
wie heißt der Laden noch ?« »Wei das Große Messer«,
antwortete sie. »Natürlich. Weißt du noch, wo das ist ?« »Direkt an der Katzenbrücke«, antwortete sie. Meister Li ging noch sechsmal mit
großen Schritten auf und ab, und als er zum Bett zurückkehrte, hielt er die
fest verschlungenen Hände auf dem Rücken.
»Liebes, wenn deine Herrin
Karten spielt, was für
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