Meister und Margarita
ansprang. »Da schießt auf ihn dieser Weißgardist, trifft seinen Oberschenkel und macht ihn damit für alle Zeiten berühmt …«
Die Kolonne fuhr los. Zwei Minuten später betrat der kranke, vielleicht sogar gealterte Dichter die Veranda des Gribojedow’schen Hauses. Sie war fast leer. Eine kleine Gesellschaft trank noch zu Ende. In ihrer Mitte ereiferte sich ein bekannter Conférencier, auf dem Kopf eine Usbekenkappe, in der Hand ein Glas Abrau.
Rjuchin, mit Handtüchern schwer belastet, wurde von Archibald Archibaldowitsch willkommen geheißen. Der nahm ihm auch gleich die verdammten Lumpen ab. Wäre der Dichter durch den Klinikbesuch und die Lastwagenfahrt nicht derart zermürbt gewesen, er hätte jetzt einen zum Besten gegeben: Wie alles vor sich gegangen war. Und die ganze Geschichte mitmanch einer zusätzlich erfundenen Einzelheit ausgeziert. Doch stand ihm der Sinn nicht danach. Vor allem nachdem er (obwohl nicht gerade ein feiner Beobachter) sich den Piraten zum ersten Mal näher angesehen hatte: Den ließ doch – trotz seiner ständigen Fragen bezüglich Besdomny, trotz seines ewigen »Ei-ei-ei!« – das Schicksal des Dichters im Grunde kalt, erregte keinerlei Mitleid. »Der weiß, wie man’s macht! Ist auch richtig so!«, sagte sich Rjuchin voll zynischer, selbstvernichtender Bosheit, unterbrach den Bericht von der Schizophrenie und meinte:
– Archibald Archibaldowitsch, ein Schnäpslein könnt’ ich jetzt gut vertragen …
Das Gesicht des Piraten zeigte Anteilnahme, und er flüsterte:
– Sicher … Kommt sofort … –, und winkte dem Kellner zu.
Eine Viertelstunde später beugte sich Rjuchin mutterseelenallein über Fischhäppchen und kippte ein Glas nach dem anderen. Nein, die eingeschlagene Bahn lässt sich nie wieder verlassen, höchstens vergessen.
Der Dichter hatte die Nacht vertan, die all den Übrigen ein Schmaus gewesen, und begriff: Sie ist hin und kehrt nicht zurück. Einmal den Kopf – von der Lampe weg – zum Himmel heben – und du weißt: Diese Nacht ist für immer verloren. Die Kellner beeilten sich und rissen von den Tischen die Decken ab. Jeder um die Veranda streunende Kater sah irgendwie morgendlich aus. Über den Dichter brach unaufhaltsam der Tag herein.
Kapitel 7
Die nicht geheuere Wohnung
Hätte man zu Stjopa Lichodejew am nächsten Morgen gesagt: »Jetzt hör mal gut zu, Stjopa! Entweder du stehst sofort auf, oder du wirst erschossen!«, hätte er seufzend, kaum hörbar erwidert: »Erschießt mich, macht mit mir, was ihr wollt – ich werde nicht aufstehen.«
Von wegen aufstehen! Er kriegt nicht einmal ein Auge auf, denn sobald er es tut, trifft ihn der Blitz und zerhackt seinen Schädel in Stücke. In diesem Schädel läutete jetzt eine schwere Glocke. Zwischen den Pupillen und den geschlossenen Lidern trieben braune und feurig grün gesäumte Flecken vorüber. Hinzu kam Übelkeit, wobei sie auch irgendwie an das Tönen eines penetranten Grammophons geknüpft war.
Stjopa versuchte sich zu erinnern, doch es fiel ihm nur ein, wie er (war es gestern? vor allem wo?) einfach nur dasteht, die Serviette in der Hand, gewillt, irgendein Fräulein zu küssen, und dabei beteuert, am nächsten Morgen, und zwar Punkt zwölf, mal vorbeizuschauen. Das Fräulein freilich hält wenig davon und sagt: »Nein, nein, ich bin nicht zu Hause!« Während er hart bleibt: »Ist mir egal, ich schau’ aber trotzdem vorbei!«
Wer war dieses Fräulein? Was sagt die Uhr? Welch ein Tag, welch ein Monat ist heute? – das konnte Stjopa unmöglich wissen. Mehr noch: Er verstand nicht einmal, wo er sich überhaupt befand. Wenigstens Letzteres bemühte er sich in Erfahrung zu bringen. Zu diesem Behufe riss er nun das verklebte linke Augenlid los. Im Halbdunkel strahlte was trübe zurück. Da erkannte er endlich den Pfeilerspiegel und begriff: Er liegtrücklings auf seinem Bett (beziehungsweise dem einstigen Bett der Juwelierswitwe), im eigenen Schlafzimmer. Da krachte sein Kopf mit solcher Wucht, dass er das Auge schloss und winselte.
Zur Belehrung: Stjopa Lichodejew, Direktor des Theaters Varieté, kam zu sich in eben jener Wohnung, im sechsstöckigen hufeisenförmigen Haus auf der Gartenstraße, deren eine Hälfte er selbst, die andere der verblichene Berlioz einnahm.
Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass diese Wohnung (mit der Nummer 50) schon seit geraumer Zeit als etwas absonderlich, wenn nicht gar höchst bedenklich galt. Vor zwei Jahren noch war sie im Besitz der Juwelierswitwe
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