Meistererzählungen
erschrocken?« lachte sie leise. »Ich glaube, Sie waren eingeschlafen?«
Er konnte nichts sagen. Sie hatte ihre Hand
weggenom men, aber seine lag noch da und fühlte die Berührung noch immer. Er wünschte sie wegzuziehen, aber er war so matt und verwirrt, daß er keinen Gedanken oder Entschluß fassen und nichts tun konnte, nicht einmal das.
Plötzlich erschreckte ihn ein ersticktes, ängstliches Ge räusch, das er hinter sich vernahm. Er wurde frei und sprang tiefatmend auf. Auch Th
usnelde war aufgestan-
den.
Da saß Berta tiefgebückt an ihrem Platz und schluchz-te.
»Gehen Sie hinein«, sagte Th
usnelde zu Paul, »wir
kom men gleich nach.«
Und als Paul wegging, setzte sie noch hinzu: »Sie hat Kopfweh bekommen.«
»Komm, Berta. Es ist zu heiß hier, man erstickt ja vor Schwüle. Komm, nimm dich zusammen! Wir wollen ins Haus gehen.«
Berta gab keine Antwort. Ihr magerer Hals lag auf dem hellblauen Ärmel des leichten Backfi schkleid-chens, aus dem der dünne, eckige Arm mit dem breiten Handgelenk herab hing. Und sie weinte still und leise schluckend, bis sie nach einer langen Weile rot und verwundert sich aufrichtete, das Haar zurückstrich und langsam und mechanisch zu lächeln begann.
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Paul fand keine Ruhe. Warum hatte Th
usnelde ihre
Hand so auf seine gelegt? War es nur ein Scherz gewesen? Oder wußte sie, wie seltsam weh das tat? Sooft er es sich wieder vorstellte, hatte er von neuem dasselbe Gefühl: ein ersticken der Krampf vieler Nerven oder Adern, ein Druck und leich ter Schwindel im Kopf, eine Hitze in der Kehle und ein lähmend ungleiches, wunderliches Wallen des Herzens, als sei der Puls unterbun-den. Aber es war angenehm, so weh es tat.
Er lief am Hause vorbei zum Weiher und in den
Obstgän gen auf und ab. Indessen nahm die Schwüle zu.
Der Himmel hatte sich vollends ganz bezogen und sah gewitterig aus. Es ging kein Wind, nur hin und wieder im Gezweig ein feiner, zager Schauer, vor dem auch der fahle, glatte Spiegel des Weihers für Augenblicke kraus und silbern erzitterte.
Der kleine alte Kahn, der angebunden am Rasenufer lag, fi el dem Jungen ins Auge. Er stieg hinein und setzte sich auf die einzige noch vorhandene Ruderbank. Doch band er das Schiffl
ein nicht los: es waren auch schon
längst keine Ruder mehr da. Er tauchte die Hände ins Wasser, das war widerlich lau.
Unvermerkt überkam ihn eine grundlose Traurig-
keit, die ihm ganz fremd war. Er kam sich wie in einem beklemmen den Traume vor – als könnte er, wenn er auch wollte, kein Glied rühren. Das fahle Licht, der dunkel bewölkte Himmel, der laue dunstige Teich und der alte, am Boden moosige Holznachen ohne Ruder, 78
das sah alles unfroh, trist und elend aus, einer schweren, faden Trostlosigkeit hingegeben, die er ohne Grund teilte.
Er hörte Klavierspiel vom Hause herübertönen,
undeut lich und leise. Nun waren also die andern drinnen, und wahr scheinlich spielte Papa ihnen vor. Bald erkannte Paul auch das Stück, es war aus Griegs Musik zum ›Peer Gynt‹, und er wäre gern hineingegangen.
Aber er blieb sitzen, starrte über das träge Wasser weg und durch die müden, regungslosen Obstzweige in den fahlen Himmel. Er konnte sich nicht ein mal wie sonst auf das Gewitter freuen, obwohl es sicher bald ausbrechen mußte und das erste richtige in diesem Sommer sein würde.
Da hörte das Klavierspiel auf, und es war eine Weile ganz still. Bis ein paar zarte, wiegende laue Takte auf-klangen, eine scheue und ungewöhnliche Musik. Und nun Gesang, eine Frauenstimme. Das Lied war Paul unbekannt, er hatte es nie gehört, er besann sich auch nicht darüber. Aber die Stimme kannte er, die leicht ge-dämpfte, ein wenig müde Stimme. Das war Th
usnelde.
Ihr Gesang war vielleicht nichts Besonderes, aber er traf und reizte den Knaben ebenso beklemmend und quä-
lend wie die Berührung ihrer Hand. Er horchte, ohne sich zu rühren, und während er noch saß und horchte, schlu gen die ersten trägen Regentropfen lau und schwer in den Weiher. Sie trafen seine Hände und sein Gesicht, ohne daß er es spürte. Er fühlte nur, daß etwas Drängen-79
des, Gärendes, Gespanntes um ihn her oder auch in ihm selber sich verdichte und schwelle und Auswege suche.
Zugleich fi el ihm eine Stelle aus dem ›Ekkehard‹ ein, und in diesem Augenblick überraschte und erschreckte ihn plötzlich die sichere Er kenntnis. Er wußte, daß er Th
usnelde lieb habe. Und zu gleich wußte er, daß sie erwachsen und eine Dame war, er aber ein
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