Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia
wieder nach draußen verzogen, und ihre Stimmen, die über die geöffnete Balkontür hereindrangen, störten Gina nicht. Aus dem Gemeinschaftsraum sickerten durch den Fußboden die Laute herauf, die ein heftiges Tischfußballmatch begleiteten. Das Knallen der Plastikkugel und das Geschrei der wetteifernden Parteien waren Elemente, die die Ruhe nicht durchbrachen, sondern sie ergänzten. So viele Leute in der Nähe zu wissen, war ein beruhigendes Gefühl.
Hatte sie überhaupt keine Angst? Nein. Nicht im Geringsten.
Sie sah zum Schrank hinüber. Offenbar hatte Henry ein Sicherheitsschloss eingesetzt. Der Schlüssel steckte. Der Riegel, der bis letztes Jahr zum Verschließen der Tür gedient hatte, weil der Schlüssel für das Schloss abhandengekommen war, war entfernt worden. Man konnte die Löcher noch erkennen, in denen die Schrauben gesteckt hatten. Der Riegel hatte nur verhindern sollen, dass die Türen von alleine aufklappten (was sie tatsächlich taten, wenn man ihn nicht vorschob).
Gina hatte nicht den Eindruck, dass irgendetwas hier war, das nicht hierher gehörte. Alles schien ihr so perfekt und neu wie nie zuvor. Wenn sie jemals so etwas wie Furcht empfunden hatte, dann war es gewesen, bevor sie hier ankamen, ehe sie das frisch renovierte Haus sah.
Das Leben ging weiter, für sie alle. Für Harald, der seine Unsicherheit zwanghaft hinter ständigen Witzeleien versteckte, für Johannes, dem eine strenge Erziehung die Furcht vor einem strafenden, kleinlichen Gott eingepflanzt hatte, für Karla, die keine leichte Kindheit gehabt hatte, da sie ohne Vater unter der Fuchtel einer hysterischen Mutter großgeworden war. Und natürlich auch für Gina, die ihre Zeit der Reue in dem Moment abgeschlossen hatte, in dem sie auf den Parkplatz des rundum erneuerten „Haus Braun“ eingefahren waren. Und sicher auch für Q, der weiß-Gott-wie-viele Kilometer in seinem Ferrari hatte abspulen müssen, um die Schuld ein wenig zu vergessen – eine Schuld, die er auf sich geladen hatte, ohne auch nur irgendetwas zu tun. Er war der Mann, der die Verantwortung trug, der Schwarze-Peter-Mensch, der Jugendleiter, der einzige Erwachsene außer dem alten Brownie, dem Herbergsvater (der nicht belangt wurde). Obwohl es an ein Wunder grenzte, dass noch niemand in seinem vernachlässigten Ferienhaus den Tod gefunden hatte, blieb der Alte außen vor. Q, der Leiter der Freizeit, hatte seine Aufsichtspflicht verletzt, und dieser Umstand hatte nicht nur seine marode Ehe vollends zerstört, sondern ihn um ein Haar auch noch den Job und das Ehrenamt gekostet. Lediglich die Tatsache, dass die Jugendlichen schon sechzehn und siebzehn Jahre alt gewesen waren und selbst eine Teilschuld trugen, hatte ihn entlastet.
Und was das Wichtigste war: Auch für Tim ging das Leben weiter.
Sie waren solche Idioten! Sie verhielten sich manchmal, als wäre Tim tot, schlimmer noch: Sie taten, als hätten sie ihn ermordet, als sinne sein Geist im „Haus Braun“ auf Rache wie in einem dieser durchschaubaren Gruselfilme.
Aber Tim ging es gut. Er lebte. Er war nicht einmal ernsthaft verletzt worden.
Er war nur nicht mehr bei ihnen, gehörte nicht mehr zu ihrer Gruppe. Und das war vermutlich zu seinem eigenen Besten.
Die anderen taten manchmal so, als hörten sie seine Stimme. Dieser komische Blick, den Karla und die Jungs gelegentlich drauf hatten – es war, als würden sie die Ohren spitzen, nach ihm lauschen. „Wer kein Geist ist, kann nicht spuken“, sagte Gina in das leere Zimmer hinein. Sie lag auf dem Rücken, sah an die Decke. Keine Schimmelflecken mehr da oben. Das Haus war so sauber, dass man sich die Hände daran abputzen wollte.
„Hallo, Tim“, flüsterte sie schmunzelnd. „Antworte mir, wenn du da bist.“
[ ... ]
„Ich wette, Tim, du hältst jetzt auch einen Mittagsschlaf.“
Gina drehte sich auf die Seite, fühlte sich geborgen, erleichtert, befreit. Sie schlummerte ein, für wenige Minuten nur. Sie träumte, dass sie Karla, Harald und Johannes doch auf ihrem Spaziergang begleitete. Die jungen Leute schlugen eine bestimmte Richtung ein, und als sie immer nervöser wurden, versuchte Gina sie zu beruhigen. Dann erwachte sie einfach, ohne dass etwas geschehen wäre. Auch sie hatte eine dieser schlanken Leuchten neben dem Bett, die einen Lichtkegel an die Decke warfen und eine angenehme indirekte Beleuchtung schufen. Sie konnte es kaum erwarten, bis es dunkel wurde und sie sie ausprobieren konnte.
Es war Zeit, ihren Koffer auszupacken.
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