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Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia

Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia

Titel: Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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des Spitznamens reichte völlig aus, um das Bild des Alten in ihr Gedächtnis zu rufen. Nein, das stimmte nicht ganz. In Wahrheit war das Bild schon die ganze Zeit über da gewesen, spätestens, seit sie den Bus bestiegen hatten, vielleicht schon seit dem Kofferpacken zu Hause. Das Bild hatte sie nicht eine Sekunde lang verlassen, auf der Fahrt hierher, nicht einmal während der zehn Minuten, in denen sie versucht hatten, den aktuellen Prinzen-Hit „Du musst ein Schwein sein“ dreistimmig zu intonieren, bis der Busfahrer sagte, er würde seine Hand so lange auf der Hupe lassen, bis sie aufhörten.
    Die Rede war von Wilhelm Zacharias Braun, dem Mann, nach dem die Herberge benannt war: um die achtzig Jahre alt, klein und mit dem sonnenverbrannten, bis auf die Knochen verschrumpelten Gesicht einer Backpflaume, die jemand seit Jahren ganz hinten im Backofen vergessen hatte. Riesige schwarze Augenbrauen, die auf seiner Stirn auf und ab zu kriechen schienen, überhaupt – diese jugendliche schwarze Mähne ohne ein einziges weißes Haar dazwischen und ohne Anzeichen einer beginnenden Glatze! Unheimlich, das war das richtige Wort. Und unheimlich war auch seine vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem Verfall seiner Herberge. In den vier Jahren, in denen sie hier ihre Sommerfreizeiten veranstalten, hatte er nicht eine einzige Reparatur ausgeführt.
    Dabei hätte das Haus es bitter nötig gehabt: Fenster, die sich nicht öffnen ließen, Schränke, die man nicht schließen konnte, Treppengeländer, die nur noch an ein paar Splittern hingen, Duschen, bei denen der Duschkopf verstopft und der Warmwasserhahn nicht zu bewegen war, dazu eingestürzte Mauern, durchgebrochene Bettroste, schimmlige Matratzen und Wespennester neben der Feuerstelle im Garten. Wohin man auch ging, überall begegnete einem Grünspan, Fäulnis und Auflösung.
    Wann immer man einen der Organisatoren der Sommercamps auf das Problem ansprach, wanden sich die Herrschaften aus der Verantwortung. Wilhelm Braun sei eben kein junger Hüpfer mehr, hieß es, man müsse Nachsicht mit ihm üben, die wunderschöne Lage direkt am See mache vieles wett, sparen müsse man sowieso, und ja, ja, natürlich werde man sehen, was sich machen ließe. Die Jugendlichen beschwerten sich so lange, bis ihnen der Vorschlag gemacht wurde, das Haus in einer gemeinschaftlichen, charakterbildenden Aktion selbst zu renovieren.
    Dieser Vorschlag änderte alles. Auf einmal fanden sie das alles nicht mehr so unerträglich. Wozu sollte man die Fenster öffnen, wenn ohnehin nur Ungeziefer hereinkam? Wozu den Schrank verschließen – sie würden sich schon nicht gegenseitig bestehlen. Kalt zu duschen war ohnehin viel gesünder, morsche Geländer schulten die Wachsamkeit, und Wespen griffen nur an, wenn man sie belästigte – das wusste doch jedes Kind. Mit einem Wort: Es sei alles in bester Ordnung. Man liebe das „Haus Braun“ von ganzem Herzen, es beziehe seinen einzigartigen Reiz und seine erhabene Würde aus dem fühlbaren Alter des Gebäudes und aus der naturbelassenen Umgebung. Man könne sich im übrigen gar nicht vorstellen, den Sommer an irgendeinem anderen Ort zu verbringen.
    Und jetzt war der alte Braun nicht mehr da, hatte nur seinen Namen zurückgelassen und das Haus einem Riesen mit einem Vollbart übergeben.
    „Rente“, meinte der Mann, der sich als Henry vorgestellt hatte. „Zu viel Arbeit.“
    Arbeit? Wann hatte Wilhelm Braun schon gearbeitet? „Haben Sie das hier wieder auf Vordermann gebracht?“
    [alle-spuren-der-erinnerung-an-tim-beseitigt]
    Der Bärtige nickte. Es war ein nüchternes Nicken, aus dem weder Stolz noch Bescheidenheit sprach.
    „Alleine?“
    Noch ein Nicken, und Harald pfiff anerkennend.
    „Ich hatte Zeit“, bemerkte Henry. Und dann: „Wollt ihr die Zimmer sehen?“
    „Und ob!“ Gina versuchte ihren Koffer zu heben, doch der Mann war bereits an der Theke vorbei und hatte die Gepäckstücke an sich genommen. Er hängte sich Karlas Tasche um und griff dann nach den beiden Koffern. Harald durfte als einziger sein Gepäck selbst tragen.
    Henry hatte Schwierigkeiten, sich und die Koffer über die schmale Treppe nach oben zu bekommen, aber während er sich polternd abmühte, hatten die Jugendlichen ausgiebig Gelegenheit, die Stabilität des Geländers zu bewundern. Wenn die Koffer dagegen schlugen, wackelte es nicht. Auch das erwartete Knarren der Treppenstufen blieb aus.
    Im ersten Stock gab es einen Flur, der ein Quadrat beschrieb und von dem

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