Melina und das Geheimnis aus Stein
braucht nur eine Taste zu drücken. Aber zu Hause funktioniert das nicht. Es gibt kein Programm, das Jonas zurückbringt und Mama sofort von der Traurigkeitskrankheit heilt.
Wenn ich daran denke, kriege ich auch Lust zu fluchen. Ich drücke Paps noch fester und bohre meine Nase in sein Hemd. Es riecht nach Rauch.
„Du hast ja schon eine Gänsehaut in deinem dünnen Pulli.“ Sanft macht er sich von mir los. „Los, geh schon mal rein, ich komme gleich nach.“
„Okay“, sage ich und gehe wieder rein. Hinter mir zündet Paps sich noch eine Zigarette an.
Als ich zu der Vitrine mit den Sandalen zurückkomme, ist meine Mutter verschwunden. Ich linse in den Saal mit den Steinsärgen, aber da ist sie auch nicht.
Trotzdem überkommt mich auf einmal das Gefühl, nicht alleine zu sein. Ich mache ein paar Schritte in den Raum hinein und blicke mich suchend um. „Hallo?“
Aber da ist niemand. Niemand außer der Statue mit dem Hundekopf. Blickt Anubis mich an? Sieht er mich?
Als ich näher trete, erkenne ich zu meiner Erleichterung, dass seine Augen aus stumpfem, leblosem Stein sind. Aufmerksam betrachte ich nun auch den Rest von ihm. In der einen Hand trägt Anubis eine Art Zepter. Man kann sehen, dass diese Statue sehr, sehr alt ist. Trotz der abgeschlagenen Stellen, trotz des Risses in der Brust strahlt sie etwas aus …
Der dunkle Stein scheint das Licht aufzusaugen. Er zieht mich an, zieht meine Hand an.
„Fass den ja nicht an, hörst du?“, ruft Pippa ängstlich und kneift mich in die Backe. „Der Kerl sieht gefährlich aus!“
Ich zucke zusammen und verstecke die Hand hinter meinem Rücken.
„Nee, keine Sorge“, murmele ich. „Ich bin doch nicht verrückt.“
„Bitte lass uns weitergehen, Melina!“ Pippa zieht an meinen Haarsträhnen, sie versucht mich zu lenken wie ein störrisches Pferd. „Hier ist es unheimlich!“
„Ja, gleich …“ Aus irgendeinem Grund kann ich mich noch nicht von der Statue lösen. Langsam wandere ich um den dunklen Gott herum.
Von hinten wird die Figur von einer Stele gestützt. In die Stele sind Bilder geritzt, die durch Hieroglyphenbänder voneinander getrennt sind. Hieroglyphen nennt man die Schriftzeichen der alten Ägypter. Die kann ich natürlich nicht lesen, aber ich beuge mich vor, um das oberste Bild genauer zu betrachten. Darauf ist die Anubis-Statue abgebildet. Vor ihr steht ein Mädchen. Obwohl man es nur von der Seite sehen kann …
„Diese Frisur, das Kleid … Das bist du!“, flüstert Pippa erstickt. Sie hat Recht. Mein Blick huscht zu dem Bild darunter, man kann die Bilder lesen wie einen Comic.
Das Mädchen berührt die Statue mit der ausgestreckten Hand. Anubis’ Augen haben jetzt Pupillen.
„Oh nein“, keucht Pippa. „Sie weckt ihn auf. Du weckst ihn auf!“
Auf dem nächsten Bild tritt Anubis von seinem Sockel herunter und lässt die Steinstele zurück, an die er als Statue gebunden war.
Ich wage es kaum, das nächste Bild anzuschauen.
Das Mädchen trägt nun Anubis’ Zepter. Gebückt wie ein Diener überreicht er ihr ein Bündel mit Stricken, an die Menschen gefesselt sind.
Eines der Gesichter erinnert mich an Maik. Und das da drüben – ist das nicht etwas mit Flügeln?
Ich wende den Blick ab. Ich will das nicht sehen.
Pippas Stimme zittert. „Er bietet dir seine Dienste an, wenn du ihn aufweckst. Oh bitte, Melina, du darfst das nicht tun!“
Ich stolpere rückwärts. Jetzt weiß ich, was die Statue des Anubis ausstrahlt. Es ist Macht.
Da drehe ich mich um und renne aus dem Saal, so schnell ich kann. Meine Schuhe schlittern über den polierten Boden, ich stoße mir das Knie an einem der Särge. Aber ich halte nicht an, bis ich zurück zur Eingangshalle komme, wo meine Mutter sitzt und auf mich wartet.
Pippa taucht ab
Nach dem Besuch im Museum habe ich Albträume. Jede Nacht wird mein Herz von Anubis gewogen. Wie das Ergebnis ausfällt, erfahre ich nicht. Ich wache immer vorher auf, geweckt von meinem eigenen Schrei.
Meine Eltern machen sich Sorgen. Immer wenn mein Vater mir nach einem Albtraum ein Glas Wasser ans Bett bringt, verspricht er mir schuldbewusst, dass wir das nächste Mal ins Thermalbad fahren anstatt in so ein blödes Museum. Dann nicke ich stumm. Ich kann ihm nichts von meinem Traum erzählen. Jedes Mal endet er damit, dass Anubis mich anblickt. Ganz so, als wäre es meine eigene Entscheidung, wie das Wägen meines Herzens ausgeht. Seine Augen haben wache, lebendige Pupillen, die mich bis in meinen Tag hinein
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