Melina und die vergessene Magie
gesagt, dass du ihn kennst!«
»Ich muss mich konzentrieren«, zischte Tann zurück. »Kannst du mir sagen, wie ich das gerade jetzt tun soll?«
Als Melina einen schmalen Bach entdeckte, flogen ihre Gedanken schneller als ihre Füße. Sie machte Tann mit einer wilden Geste auf sich aufmerksam und tappte so leise wie möglich ins Wasser, folgte dem Bach ein paar Schritte und stieg dann auf der anderen Seite hinaus. Tann sah sie erstaunt an, aber er folgte ihr. Vielleicht hatten sie Glück und das Tier würde tatsächlich kurzfristig die Fährte verlieren. Melina hielt den Finger an den Mund und lief so leise wie möglich weiter. Schließlich blieb sie stehen und starrte mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit. Nicht weit von ihnen bewegte sich ein großer Schatten. Er hatte die Umrisse einer Raubkatze, mehr konnte Melina nicht erkennen. Die Schritte des Tieres wurden langsamer, als es die Stelle erreichte, an der Tann und sie gesprungen waren.
Inzwischen nahm Tann mit zitternden Fingern einen der schwarzen Beutel von seinem Gürtel in die Hand und öffnete ihn. Eine leuchtende Kugel aus perfektem, blauweißem Eis kam zum Vorschein. Melina war nicht ganz klar, warum sie leuchtete und warum sie in Tanns Kleidung nicht geschmolzen war. Aber das war jetzt nicht wichtig. Der Gedanke an Flucht beherrschte ihren Herzschlag und das Blut in ihren Adern, sodass sie ihre Beine nur schwer am Weglaufen hindern konnte. Tann nahm ihre Hand und legte sie über seine, die die Kugel umschloss.
»Jolana ter’abb«, flüsterte er.
Nichts geschah. Melina konnte den Blick nicht von der schattenhaften Kreatur abwenden, die gerade die Schnauze vom Boden hob und in die kühle Waldluft streckte.
»Jolana ter’abb«, wiederholte Tann.
Nichts!
»Muss man irgendwas tun, während man das sagt?«
Melinas Stimme war nur ein Hauch in der Nachtluft.
Tann zuckte mit den Schultern. »Vielleicht reicht eine Hand nicht, leg beide Hände um meine«, sagte er – etwas zu laut.
Die Kreatur hob den Kopf und sprang über den Bach. Melina hielt die Luft an und konnte in der Stille bereits den Atem des Tieres hören. Und noch etwas anderes: Ein tiefes, vibrierendes Grollen kam aus seiner Kehle.
»Schnell!«, rief sie. Es war nicht mehr wichtig, leise zu sein.
»Jolana ter’abb«, wiederholte Tann noch einmal. Melina hörte die Hoffnungslosigkeit in seiner Stimme – aber im nächsten Moment strömte ein Gefühl der Freiheit durch ihren Bauch, als würde sie leicht wie ein Blatt im Wind. Irgendetwas geschah! Und es geschah mit Tann und mit ihr gleichzeitig, denn sie konnte seine Hand noch spüren. Sehen konnte sie nichts mehr, es wurde eher noch dunkler. Etwas erfasste sie und trug sie hoch, immer höher. Nicht so wild wie vorhin in den Bäumen, nein. Sie meinte eher, durch die Wolken zu segeln wie ein Adler, der sich mit ausgebreiteten Schwingen vom kühlen Wind tragen ließ. Sanft und irgendwie … erhaben.
Als sie wieder auf dem Boden landete, war es, als würde sie aus einem Traum erwachen. Die Beine waren noch etwas wackelig, aber sie fühlte sich fantastisch.
»Mein Gott, was war das?«
Tann antwortete nicht. Er betrachtete seine Handflächen, als könnte er alle Wunder der Welt darin lesen.
»Das war das Schönste, das ich je gezaubert habe«, flüsterte er.
»Diese kleine Kugel aus Eis hat
das
bewirkt?«, fragte Melina und starrte ebenfalls in seine Hand, in der nur noch ein paar Wassertropfen zu sehen waren. Tanns Gesicht strahlte vor reiner, kindlicher Freude.
»Das Licht eines Tages«, erwiderte er. »Sehr wenige Zauberer können es in einer magischen Kugel einfangen. Wenn man es freilässt, trägt es Reisende so weit, wie sie an einem Tag gekommen wären.«
Melina nickte verwirrt und blickte über die Wiese mit dem hohen, silbernen Gras, das wie Lavendel duftete und lautlos im Mondlicht wogte.
»Der Wächter ist also verschwunden!«, lachte sie.
Tann schüttelte den Kopf. »Nein, er ist eine Tagesreise hinter uns. Und er ist schneller als wir.«
»Glaubst du denn, er kann uns folgen? Ich bin sicher, dass er die Spur verloren hat. Kein Tier könnte sie wieder finden.«
Schon als sie es aussprach, ahnte sie, dass diese Kreatur nicht irgendein Tier war. Mit Grauen erinnerte sie sich an das Grollen, das sie nicht nur gehört, sondern tief in ihrem Magen gespürt hatte. Tann ließ die Frage unbeantwortet und setzte sich an Ort und Stelle auf den Boden. Aus seinem Rucksack zog er eine weitere Eiskugel und nahm sie in die
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