Melina und die vergessene Magie
sah, konnte sie den Wald sehen, hinter dem ihr Dorf lag. Ihre Eltern würden niemals wissen, dass ihre Tochter ihnen so nahe war. Sicher hatten sie schon einmal vom Turm des Feuers gehört und ebenso sicher hielten sie ihn für eine Legende.
Lianna seufzte erleichtert auf, als sie die Tür ins Innere des Turms öffnete. Die festen Wände gaben ihr Halt. Nur noch ein paar Stufen lagen vor ihr auf dem Weg zu ihrer Herrin, die fast ihre ganze Zeit im obersten Zimmer verbrachte.
Auf einmal wurde Lianna von einer großen Hand beiseitegeschoben und hätte beinahe die Kontrolle über ihr Tablett verloren. Sie hatte den grauhaarigen Zauberer nicht kommen hören, obwohl es nicht das erste Mal war, dass er sie wie ein lästiges Haustier behandelte. Lianna verabscheute diesen düsteren Mann, der so oft bei ihrer Herrin auftauchte. Aber er war der einzige Vertraute, den Morzena hatte, und sie schien ihn schon sehr lange zu kennen. Lianna musste wohl oder übel mit seiner Gegenwart leben.
Der Zauberer hatte ihr die Tür vor der Nase wieder zugeschlagen, sodass Lianna zaghaft klopfen musste, bevor sie mit ihrem Tablett vorsichtig eintreten durfte. Morzena saß mit elegant angewinkelten Beinen auf einem Diwan, der angeblich aus dem schwarzen Leder des letzten Wasserdrachen gefertigt war. Lianna hatte ihn einmal angefasst und festgestellt, dass er unerwartet weich war. Dennoch hatte sie nicht gewagt, sich daraufzusetzen.
Morzena nickte ihr zu. »Stell es auf den Tisch!«, befahl sie knapp, und an den Zauberer gewandt fragte sie: »Du trinkst doch eine Tasse mit mir?«
Er setzte sich Morzena gegenüber auf einen Stuhl.
»Gern, aber wir haben Wichtiges zu besprechen.«
Lianna schenkte beiden ein und blieb dann unschlüssig in einer Ecke stehen.
»Schon wieder Probleme?«, fragte Morzena bissig.
»Das weiß ich noch nicht.« Er zögerte. »Irgendwo in Lamunee wurde ein Tor in die Menschenwelt geöffnet. Und es war lange genug offen, dass jemand hätte hindurchgehen können.«
Morzena setzte die Tasse ruckartig ab, sodass das dunkle Gebräu über den Rand schwappte.
»
Ist
jemand hindurchgegangen?«
Der Magier fuhr sich durch seine dichten grauen Haare, die so akkurat geschnitten waren, dass sie kaum die Schulter berührten.
»Ja, davon bin ich überzeugt.«
»Und der Wächter?«
»Der Wächter ist unterwegs. Er hat nur vorübergehend … die Fährte verloren.«
»Was?«
Morzena sprang auf und lief zum Fenster. Lianna hatte sie noch nie so aufgeregt erlebt. »Wie kann das sein? Hattest du nicht gesagt, er sei eine scharfe und hungrige Bestie? Was hat er getan? Unterwegs ein paar Kuchen gefressen und dabei die Orientierung verloren?«
Der Magier beobachtete Morzenas Schritte, die sie immer wieder zwischen Diwan und Fenster hin und her führten. Für die Dauer eines Herzschlags sah Lianna unbändige Wut in seinem Blick. Jedoch als Morzena sich umwandte, schüttelte er ergeben den Kopf.
»Nein, nein! Mach dir keine Sorgen! Er hat die Verfolgung bereits wieder aufgenommen.«
Lianna schenkte Morzena eine weitere Tasse ein. Auf ein Nicken ihrer Herrin wandte sie sich der Tür zu und war froh, den Raum verlassen zu können. In den Augen dieses fremden Magiers hatte sie etwas gelesen, was sie nicht verstand. Aber sie war klug genug, sich davor zu fürchten.
Der Riese Godor
Kurz nach Einbruch der Dämmerung war Melina so müde, dass ihr beim Laufen fast die Augen zufielen. Ihre Füße taten weh, und der letzte Kolok-Eintopf, den Tann zu Mittag gezaubert hatte, reichte ihrem Magen längst nicht mehr. Es wurde Zeit für ein anständiges Abendessen und ein warmes Bett. Nun ja, heute Abend würde sie vermutlich sogar auf einer Wiese schlafen können.
Den ganzen Tag über waren sie durch ländliche Gegenden gewandert, vorbei an Feldern und kleinen Dörfern, die sie aber bewusst mieden. Inzwischen führte sie der Weg durch eine schmale Schlucht, vielleicht einen ehemaligen Flusslauf, der oberhalb auf beiden Seiten in dichten Wald überging. Je dunkler es hier unten wurde, desto unheimlicher fand es Melina. Als sie um eine Biegung kamen, hörte sie völlig unvermutet Stimmen und Gelächter. Doch es war weit und breit niemand zu sehen, nur ein Baum mit einem so gewaltigen Stamm, dass man zehn oder zwölf Männer gebraucht hätte, um ihn mit den Armen zu umfassen. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckte Melina die Tür darin, die ebenso knorrig aussah wie die dunkle Rinde selbst. Darüber hing ein geschnitztes Holzschild: »Wanderer,
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