Melina und die vergessene Magie
aßen ihren Eintopf neben felsenähnlichen Wesen, deren grasbewachsener Kopf bis zur Decke reichte.
»Sumpftrolle«, zischte Tann ihr ins Ohr. »Sehen gefährlicher aus, als sie sind. Aber hast du schon die Schlanglinge da hinten gesehen? Vor denen nimm dich in Acht!«
Er deutete unauffällig in eine Ecke, in der Melina vier Wesen entdeckte, deren Haut von oben bis unten aus grünen Schuppen bestand. In den haarlosen Köpfen funkelten gelbe Augen, und Arme und Beine sahen aus wie Tentakel. Obwohl ihre Bewegungen träge schienen, wirkten sie sehr muskulös. Erschrocken, aber fasziniert blieb Melina stehen, bis alle drei ihren Blick erwiderten und mit ihren langen Zungen zischelten. Tann zog sie entschlossen mit an den Tresen.
»Starr hier niemanden an! Wenn du den Falschen erwischst, kommen wir mit ein paar Körperteilen weniger wieder heraus.«
Tann bestellte Eintopf – diesmal ohne Kolok-Früchte, wofür Melina ihm dankbar war – und heißen Tee, der nach unbekannten Gewürzen duftete. Beladen mit Tellern und Krügen gingen sie zu einer Art Hühnerleiter – einem Brett mit Querstreben –, die sie einen engen Gang hinauf, um die Kurve und dann auf die nächste Ebene führte. Dort oben war längst nicht so viel los wie unten. Fünf Gnome saßen zusammen über einem Blatt Papier und stritten sich lautstark in einer Sprache, die von seltsamen Klack-Lauten geprägt war. An einem langen Holztisch hockten zwei Männer, deren Haare Melina sofort faszinierten. Sie waren kunstvoll zu breiten Umhängen verwoben und fielen in natürlicher Eleganz wie Kleidungsstücke über ihre Schultern. Tann aber ging weiter zur nächsten Leiter. Im darüberliegenden Raum befanden sich hauptsächlich menschenähnliche Wesen. Blasshäuter, wie Melina inzwischen gelernt hatte. Gebannt nippten sie an ihren Getränken und lauschten einem dunkelhaarigen Jungen – dem Sänger, den Melina schon von unten gehört hatte.
Er war jünger, als sie gedacht hatte, etwa fünfzehn, saß aber in einer sehr selbstbewussten Haltung vor seinen Zuhörern. Er lehnte sich vertraulich vor, sodass man meinen konnte, er würde ihnen ein Geheimnis erzählen. Während er sang, blitzten seine Augen, und die Beine in den hellbraunen Hosen und den hohen Schnürstiefeln zuckten im Takt. Das Musikinstrument auf seinen Knien fand Melina sehr fremdartig. Es handelte sich um eine aufgeklappte Holzschale, die man vermutlich wie einen Koffer schließen konnte. Die eine Hälfte war mit Saiten bespannt und klang ähnlich wie eine Harfe. Die andere Hälfte war mit Wasser gefüllt, und wenn die rechte Hand über den Rand strich, hallten eigenartige Klänge von den Wänden wider – wie in einer Grotte. Dazu ließ der Junge die Worte seines fröhlichen Liedes durch die Melodie tanzen wie einen Harlekin auf einem Seil.
Im Haus von meinem Freund Ladou,
Da geht es immer munter zu.
Ich kam zum Essen – und wär gern geblieben.
Doch hat sein Viehzeug mich vertrieben:
Die Katze kochte. Es gab immer Fisch.
Ein Specht, der zimmerte uns den Tisch.
Die Elster wollte das Silber putzen,
Doch kann ein Dieb als Putzer nutzen?
Die Schnecke holte Wasser vom Fluss,
Wo sie heute wohl noch sein muss.
Der Hund, der säuberte meine Schuh
Mit langer Zung’ – in aller Ruh.
Ein Stinktier wischte den Boden blank,
Heiliges Eis, war das ein Gestank!
Zur Tür geleitete mich ein Floh,
Wo der wohl jetzt sein mag? – Oh!
Der Sänger nahm die Finger von seinem Instrument und kratzte sich im Nacken – als hätte er den Floh tatsächlich soeben gefunden. Die Zuschauer brachen in Gelächter aus und klatschten, während sich der Sänger mit einem verschmitzten Grinsen erhob und mit dem Fuß einen hellen ledernen Hut vom Boden hochwirbelte, sodass er direkt in seine Hand flog. Jeder der Zuhörer warf freigiebig ein paar Münzen in den Hut des Jungen.
Als er an ihrem Tisch vorbeikam, kramte Tann umständlich in seinen Taschen nach Geld und beugte sich dabei nach vorn.
»Danke für die schöne Musik«, sagte er laut. Leise fügte er hinzu: »Fast so schön wie der Gesang meines Freundes Nori.«
Der Junge erstarrte und musterte Tann. Er schien den Hinweis verstanden zu haben, überlegte aber wohl noch, ob er Tann trauen konnte. Dann setzte er sein Sänger-Lächeln auf wie eine Maske und sagte laut: »Danke, natürlich setze ich mich gleich gern zu euch.«
Während er weiter seine Runde mit dem Hut machte, stieß Melina Tann in die Seite. »Was willst du von ihm?«
»Ich wollte testen,
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