Melina und die vergessene Magie
tritt ein!«
»Was ist das?«, fragte Melina erstaunt und Tann grinste.
»Ein Wirtshaus. Von einem Zauberer, dem ich oft Holz geliefert habe, weiß ich, dass es einen guten Ruf hat. Heute Nacht wirst auch du gut schlafen können.«
Sie ließ ihren Blick am Stamm entlang nach oben wandern. Dort gab es lauter kleine glaslose Fenster, aus denen der goldene Schein von Kerzenlicht flackerte. Hinter manchen davon konnte man Gestalten erkennen, deren Schatten über die Blätter des Baumes tanzten. Melina fand das angebliche Wirtshaus weniger einladend als befremdlich.
»Warum stirbt der Baum nicht ab, wenn er von innen hohl ist?«
»Es gibt eine Legende, die jedes Kind in Lamunee kennt«, erzählte Tann. »Vor langer Zeit, heißt es, hätte ein Bauer oft diesen Weg zum Nachtmarkt nach Pataka genommen. Jedes Mal machte er hier Rast, lehnte sich an den Stamm und schlief ein. Und jedes Mal schenkte der Baum ihm einen wunderschönen Traum. Eines Tages, als der Bauer schon zur Dämmerstunde zu seinem Baum kam, stand ein Mann mit einer Axt davor. Der Bauer fragte ihn, was er da treibe. Und der Mann antwortete: ›Hast du je so viel magisches Holz auf einmal gesehen? Dieser Baum wird mich reich machen.«
Melina hob verwundert die Augenbrauen. »Hätte er den Stamm nicht mit einer Windaxt durchschlagen müssen?«, fragte Melina nach.
Tann nickte anerkennend. »Und zwar mit einem einzigen Schlag. Aber der Fremde wusste das nicht. Der Baum wäre unter seinen Hieben gestorben und das Holz wäre nicht nutzbar gewesen. Der Bauer erschrak jedenfalls, denn er wollte seinen alten Freund nicht verlieren. Und er erwiderte flüsternd: ›Welcher Baum? Das ist doch kein Baum!‹ Der Fremde war verwirrt. ›Was soll es sonst sein?‹
Der Bauer zog ihn noch einen Schritt weiter fort. ›Schsch, nicht so laut! Du bist wohl nicht von hier? Sonst wüsstest du sicher, dass dies der Riese Godor ist. Wenn die Sonne untergeht, erwacht er. Er hebt seine mächtigen Äste, zieht die Wurzeln aus der Erde und stampft donnernd durch den nächtlichen Wald. An deiner Stelle würde ich mich beeilen – ich bin sicher, er mag es nicht, wenn jemand mit einer Axt vor ihm steht.‹
Die Sonne ging gerade in diesem Moment unter, und du kannst dir kaum vorstellen, wie schnell der Fremde gerannt ist!«
Melina lachte. »Was geschah dann?«
Tann lächelte undurchsichtig. »Dann erwachte der Riese Godor. Er hob seine Äste und zog die Wurzeln aus der Erde. Und er beugte sich zu dem Bauern herab und dankte ihm.«
»Du willst mich hochnehmen!«, erwiderte sie ungläubig.
Er zuckte mit den Schultern. »Nun, es ist vermutlich nur eine Legende. Aber Bäume sind lebende Wesen, sie haben allerdings kein Kyee. Der Bauer hat ihm welches gegeben.«
»Kyee? Was ist denn das schon wieder?«
»Das, was uns besonders macht. Die Kraft tief in uns.«
»Die Seele?«, fragte Melina.
»Mag sein«, nickte Tann. »Es wird gemunkelt, dass dieser Bauer ein
Mensch
gewesen sein könnte. Niemand in Lamunee kann Kyee geben. Nicht einmal große Zauberer.«
Melina runzelte die Stirn. »Der Bauer hat dem Baum einfach eine eigene Geschichte gegeben, die er sich ausgedacht hat. Er hat etwas Neues geschaffen. Seine Fantasie ausgelebt.«
»Fantasie?«
Tann sah sie fragend an, aber Melina war in Gedanken noch bei Godor.
»Also wird der Baum jetzt hoffentlich nicht aufwachen?«
»Nein«, lachte Tann. «Er hat sich anders entschieden. Als er und der Bauer endlich miteinander sprechen konnten, erfuhren sie, dass sie etwas gemeinsam hatten: Sie waren einsam. Und diesmal schenkte der Bauer seinem Freund einen Traum: Sie eröffneten gemeinsam ein Wirtshaus, einen Ort voller Leben und Trubel.«
Tann trat durch die Tür und bedeutete Melina, ihm zu folgen. Inzwischen war ihre Neugier stärker als ihr Unbehagen. Im Schankraum drangen schwatzende Stimmen, dumpfes Lachen und Gläserklirren an ihr Ohr, während von weiter oben ein Sänger zu hören war. Tanns Gesicht strahlte vor Begeisterung, und Melina vermutete, dass er Orte wie diesen bisher nur selten oder nie von innen gesehen hatte – als hart arbeitender Waldmensch. Melina, die von Lamunee bisher fast nur Wiesen und Wälder gesehen hatte, faszinierte der farbenprächtige Anblick ebenso sehr. An den Holztischen, die in jeden noch so kleinen Winkel des Baumes hineingebaut waren, saßen die ungewöhnlichsten Wesen, die man sich nur vorstellen konnte. Kleine Männchen mit Flügeln, deren Kleider aus verwobenen bunten Bändern bestanden,
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