Melina und die vergessene Magie
betroffen war, hatte ihr allerdings niemand sagen können.
»Ich war nur neugierig, wo meine Familie jetzt lebt«, fügte sie hinzu, und nach dieser Begründung wagte sie auch wieder, Morzena anzusehen.
»Und
ich
habe gesagt, es ist alles in Ordnung!«, fauchte Morzena. »Ich mag es übrigens nicht, wenn meine Dienerinnen …«
»Lehrlinge«, korrigierte Lianna ohne nachzudenken, und Morzenas Blick bekam die Schärfe eines Messers.
»… wenn meine
Untergebenen
mir nicht völlig vertrauen.«
Diesmal war Lianna beinahe dankbar, als Salius sie unterbrach. Mit unergründlichem Gesichtsausdruck kam er durch die Tür gestürmt.
»Morzena! Es gibt neue Probleme …«
»Nicht schon wieder!«
Morzena gab Lianna ein Zeichen, dass sie verschwinden solle. Erleichtert verließ sie den Raum, aber irgendetwas hinderte sie daran, die Tür zu schließen. Es war das erste Mal in Liannas Leben, dass sie jemandem misstraute, der ihr nahestand. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, Morzena war noch vor wenigen Tagen ihre Zukunft gewesen. Jetzt hatte sie vor allem Angst um ihre Familie, und deshalb musste sie so viel wie möglich über die Pläne ihrer Herrin erfahren.
»Du erinnerst dich sicher an meinen Lehrling Tann«, hörte Lianna Salius’ Stimme.
»Wie könnte ich ihn je vergessen?« Morzenas Stimme klang ungewohnt nervös. »Was ist mit ihm? Hat er etwas über seine Macht herausgefunden?«
Salius lachte heiser. »Nein, dazu wäre er wohl kaum in der Lage, aber … er war derjenige, der das Tor in die Menschenwelt geöffnet hat.«
»
Was?
Wie kann er das?
Ich
kann ja nicht einmal Tore öffnen!«
»Er kann es auch nicht.« Salius’ Stimme klang besänftigend. »Es war … Ich wollte dich nicht beunruhigen, aber es war
mein
offenes Tor, das Tann genutzt hat.«
»Du? Wozu …?«
»Unterbrich mich nicht und hör mir zu. Das mit dem Tor war Pech und lässt sich nicht ändern. Aber der Wächter ist meine Kreatur. Deshalb habe ich auch telepathischen Kontakt mit ihm, und ich weiß immer, wo er ist. Er verfolgt Tann und den Menschen, der mit ihm gegangen ist.«
Morzena schwieg. Lianna kannte ihre Herrin gut genug, um zu wissen, dass sie innerlich vor Wut schäumte.
»Dieser Mensch und Tann sind zunächst nach Modora gegangen. Da das Dorf versklavt wurde, erwartete ich, dass Tann bald zurückkehren würde in mein Haus. Er ist ein Holzfäller, kein Held. Aber es kam anders. Der Wächter folgte ihm zum Wirtshaus Godor …«
»Was wollte er da? Zieht er häufiger in Wirtshäusern umher?«
Salius machte ein schnalzendes Geräusch.
»Nein, überhaupt nicht. Vielleicht hat er dort nach einem Zauberer gesucht, der ihm helfen kann.«
»Und? Wo ist er jetzt?«, fragte Morzena ungeduldig. Salius zögerte.
»Im Nebelwald!«
Lianna hörte Morzenas typische Schritte auf dem Steinboden und sah in Gedanken ihre Herrin vor sich, wie sie zwischen Diwan und Fenster hin und her lief.
»Bei den Xix? Das gefällt mir nicht.«
»Mir auch nicht. Vor allem, weil wir den Wächter nicht dorthin schicken können. Er würde nicht zurückkehren. Wir müssen warten, bis Tann das Gebiet wieder verlässt.«
»Was könnte er dort wollen? Kann er von dem Tiegel wissen?«
»Wohl kaum«, erwiderte Salius abfällig. »Er interessiert sich ausschließlich für sich selbst und für magisches Holz. Vergiss nicht, er ist nur ein Bogan!«
»Gut. Halte die Spione bereit. Und wenn du noch einmal so wichtige Informationen hast, dann warte nicht wieder Tage, um sie mir mitzuteilen!«
Lianna hatte den scharfen Tonfall gehört, in dem Morzena Salius gerügt hatte. Sehr leise schloss sie die Tür und rannte zur Außentreppe. Warum fürchtete die große Zauberin einen unbedeutenden Lehrling? Vermutlich war dieser Tann in Wirklichkeit ein gefährlicher Magier, ein Spion der Eiszauberer.
Hexen
Bis auf einen blassen Mond war der Himmel inzwischen dunkel geworden. Melina konnte die Bäume um sich herum nur noch erahnen. Die leuchtende Kugel schien kurz vor dem Erlöschen, und der wabernde Nebelkreis zog sich immer enger um sie zusammen. Noch beängstigender fand Melina jedoch Erels und Tanns leere Gesichter, die im schwachen Schein der Lampe immer mehr ihre Konturen verloren. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie ganz zu Nebel wurden. Verzweifelt blieb Melina stehen. Aber was konnte sie tun?
Merkwürdig! In diesem Augenblick, in dem tatsächlich etwas Böses im Dunkel auf sie lauerte und in dem sie die Angst so schmerzhaft spürte, dass sie
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