Melina und die vergessene Magie
und stieß schmerzhaft mit einem Arm gegen die Wand, aber es war ihr egal. Wichtig war nur, dass sie endlich nach draußen kamen.
Durch einen Hinterausgang verließen sie den einstürzenden Bau und standen in dem ungewöhnlichsten Garten, den Melina je gesehen hatte. Bäume, Büsche und Blumen bestanden aus schmelzendem Eis. Eilig verließen die drei die vergehende Landschaft. Es fühlte sich an wie ein Abschied für immer.
Erst ein gutes Stück entfernt ruhten sie sich aus. Erel drückte jedem eine dampfende Tasse Gewürztee in die Hand, und erst jetzt spürte Melina, dass ihr kalt war. Dankbar umklammerte sie die Tasse mit ihren Fingern.
»Wenn du eine Zauberin aus Lamunee wärst«, sagte Erel nachdenklich, »könntest du dich selbst wärmen, dir deine Lieblingsspeisen herbeiwünschen oder Blitze auf diebische Vögel schleudern. Du beherrschst eine andere Art von Magie, nicht wahr?«
Melina lächelte irritiert.
»Magie? Nein, bestimmt nicht. Ich denke mir einfach gern Geschichten aus. Da, wo ich herkomme, gilt das als ein bisschen …« Sie kreiste mit dem Finger neben ihrer Stirn. »… sonderbar.« Sie wartete auf ein abfälliges Grinsen. Erel musterte sie jedoch mit ernster Miene.
»In dieser Welt«, fuhr Melina fort, »kann ich mit meinen Geschichten tatsächlich etwas ändern. Beim ersten Mal habe ich die Chulus freigelassen, vorhin waren es die Vögel.«
Erel hob die Augenbrauen. »Du kannst Chulus zu friedlichen Wesen machen und Spionvögel in die Wüste schicken. Und dafür wird man in deiner Welt ausgelacht?«
Melina spürte, dass sie rot wurde. »Aber es sind nur Geschichten, nur Worte.«
Erel nahm ihre Hand. »Du kannst mit Worten etwas bewirken. Bei uns nennt man das Magie.«
Sie wandte das Gesicht ab. Er musste ja nicht sehen, dass ihre Wangen tiefrot waren!
Während Tann und Melina an ihrem Tee nippten, zog sich Erel für eine Weile mit dem kleinen roten Tagebuch zurück. Melina konnte ihm ansehen, dass es ihm nicht leichtfiel, die Erinnerungen an seinen Großvater und an seinen Vater zuzulassen. Seine Miene spiegelte alle seine Gefühle wider, und Melina hätte ihm gern Mut gemacht.
Auf einmal sprang Erel auf und kam zu ihnen.
»Hier habe ich etwas!«, rief er aufgeregt. »›Fünfzehnter Tag im Zyklus der Eisblume. Die Xix sind ein geheimnisvolles Volk und dennoch kann ich sie verstehen. Heute haben sie sich für immer verabschiedet. In den Gesichtern der anderen Zauberer konnte ich lesen, wie erleichtert sie waren. Ich hätte sie gern noch länger um mich gehabt. Ihre Anführerin, Selyke, ist eine Frau voller Stolz, aber auch voller Weisheit.‹«
»Wie schön, dass dein Großvater so wichtige Dinge festgehalten hat«, knurrte Tann.
Erel beachtete ihn nicht und las weiter. »… hmhmhm … ›Eingang in ihr geheimes Land‹ … hmhmhm … ›deutet vieles darauf hin, dass dieser Eingang in der Mitte eines Waldes liegt, dem Nebelwald‹ … hmhmhm … Nein, mehr steht hier nicht darüber.«
Tann stöhnte auf. »Dafür haben wir also unser Leben riskiert?«
Erel ging nicht darauf ein. »Wo der Nebelwald ist, weiß ich … ungefähr. Und die Mitte … werden wir schon irgendwie finden.«
Melina nickte. »Wenn das alles ist, was wir haben – dann los!«
Den Rest des Tages marschierten sie, ließen die Hügellandschaft hinter sich und erreichten einen großen See, den sie umrunden mussten. Als die Sonne unterging, zauberte Tann wieder seinen Kolok-Eintopf, während Erel eine Schutzhülle um sie herum beschwor. So konnten sie sogar ein Feuer machen, ohne dass sie jemand – oder etwas – von Weitem sehen oder riechen konnte. Danach krochen sie unter ein paar warme Decken, und Tann und Erel fielen fast sofort in tiefen Schlaf. Melina blieb noch eine Weile wach und starrte in die Sterne. Und sie kam sich plötzlich wieder so allein vor. Hatte sie wirklich vor ein paar Tagen noch ein Theater darum gemacht, dass sie von Frankfurt in die Nähe von Hamburg gezogen waren? Hätte sie da schon geahnt, wie weit weg von zu Hause sie wirklich landen würde … Jetzt wäre ihr jedes Zuhause recht, wenn nur ihre Eltern dort wären. Mit diesem Gedanken fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen rüttelte eine große Hand Melina an der Schulter. »Wenn du noch lange schläfst, verpasst du meinen wunderbaren Kolok-Eintopf. Und ich weiß doch, wie gern du ihn magst.«
Tann grinste. Er wirkte fröhlich und putzmunter.
»Du kannst ja genauso schnell aufstehen, wie du einschlafen kannst.
Weitere Kostenlose Bücher