Melina und die vergessene Magie
Das ist widerlich!«, stöhnte Melina, während ihr die Augen wieder zufielen.
»Und du willst am Abend nicht schlafen gehen und am Morgen nicht aufstehen. Ist das besser?«, fragte Tann belustigt.
Nach einem kräftigen Frühstück – Melina hatte den Eintopf diesmal umgehen können und von Erels frischem Brot gegessen – brachen sie wieder auf. Gegen Mittag erreichten sie einen Wald, der immer dichter wurde, je weiter sie kamen. Und nicht nur die Landschaft veränderte sich, sondern auch die Stimmung. Der Himmel, den Melina in Lamunee bisher immer blau erlebt hatte, war wolkenverhangen und grau. Sie fröstelte. Jedes Geräusch wurde von der Umgebung verschluckt, es war totenstill. Die dunklen Bäume wurden immer knorriger und ließen immer weniger Licht durch ihre Blätter. Ein bizarrer Gegensatz dazu waren die weißen Blüten an den Zweigen. Sie schienen regelrecht zu leuchten, beinahe gespenstisch.
»Meinst du, das ist der Nebelwald?«, flüsterte Tann.
Erel zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher. Aber ich denke, es wäre ein guter Name für diesen Ort.«
»Dann sollten wir jetzt versuchen, die Xix zu finden«, drängte Melina, die sich überhaupt nicht wohl in ihrer Haut fühlte.
Erel nickte und deutete voraus. »Die Mitte müsste etwa dort liegen.«
Eine Weile liefen sie mit aufmerksamen Blicken weiter. Plötzlich legte sich eine große Hand auf Melinas Arm.
»Hast du das auch gesehen?«
»Tann! Erschreck mich nie wieder so!«, stieß sie hervor.
»Ich weiß nicht, was es war«, raunte er und deutete nach vorn. »Aber es hat sich bewegt!«
Nebel stieg an jener Stelle aus dem Boden auf und schwebte zwischen den Bäumen.
»Kein Wunder, dass du Gespenster siehst.« Melina bemühte sich um einen lockeren Ton, obwohl ihr nicht danach zumute war.
Und dann erkannte sie, dass der Nebel sich ganz gezielt bewegte: Er verdichtete sich an manchen Stellen, und aus dem Nebel wurden Gestalten. Sie waren körperlos und dennoch menschlich.
»Die Bewohner dieses Waldes«, raunte Erel. »Ich dachte, das wäre ein Märchen …«
Melina krallte die Finger in Erels Ärmel. »Heißt das, du wusstest, dass hier … so was lebt?«
Erel schwieg und Tann rückte ebenfalls näher, bis die drei dicht gedrängt zusammenstanden.
»Sie sind überall«, hauchte Tann in Melinas Ohr. »Vor und hinter uns. Sie kreisen uns ein!«
Melina sah sich um und entdeckte zwanzig bis dreißig Wesen. Wie auf einen unausgesprochenen Befehl hin setzten sie sich in Bewegung und kamen näher und näher.
»Awún kea ré«, rief Erel laut, und auf einmal brannte gleißendes Licht in Melinas Augen, so hell, dass sie automatisch die Hände vors Gesicht schlug. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie wieder etwas sehen konnte. Erel trug einen Stab in der Hand, an dessen Ende eine große, taghell leuchtende Kugel befestigt war.
»Seht doch«, flüsterte Tann. Die Nebelgestalten zogen sich eilig an den Rand des Lichtkegels zurück. Dort reichten sie sich die Hände und gingen im Kreis wie bei einem volkstümlichen Tanz. Zuerst dachte Melina, es wäre eine optische Täuschung, aber es war wirklich so: Die Hände verschmolzen miteinander, bis nur noch schattenhafte Arme ineinandergriffen. Die Nebelgestalten zerfaserten und zerflossen vor ihren Augen, liefen ineinander und bildeten ein einziges Wesen, das vor der Lichtgrenze verharrte. Es wartete.
Melina sah Erel wütend an. »Du wusstest von ihnen, nicht wahr?«
Erel wich ihrem Blick aus. »Ja. Leider nichts Gutes. Tut mir leid, ich dachte, dass diese Geschichte zur Abschreckung erfunden wurde.«
»Ich dachte, in Lamunee kann sich niemand Geschichten ausdenken?«
»Niemand von hier«, bestätigte Erel. »Aber die Xix können es.«
Tann schnaubte. »Nun lass dich nicht so bitten. Ich will die Geschichte hören, bevor ich gefressen werde!«
»Als ich ein Kind war«, begann Erel, »hat mir mein Großvater davon erzählt. Es ging um ein magisches Volk, das einen Schatz in einem Wald versteckt hat. Den Wald haben sie mit einem Fluch belegt. Wenn Schatzsucher kamen, verloren sie nach und nach ihre Erinnerungen. Die Erinnerung an ihr Ziel, an ihr Zuhause, an ihre Familie. Und wenn sie schließlich hilflos umherirrten und nicht einmal mehr ihren Namen wussten, wurden sie zum Nebel des Vergessens.«
»Und du meinst, mit diesem magischen Volk meinte dein Großvater die Xix? Und der Schatz …«
»… ist der Eingang zu ihrer Welt. Das nehme ich an«, nickte Erel.
»Eine grausame Art,
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