Melina und die vergessene Magie
ein Rascheln in einem herbstlichen Laubwald klang.
Melina senkte den Kopf. »Tut mir leid. Ich musste es tun, um mein Leben zu schützen.«
Die Stille war unerträglich. Als Melina glaubte, die Hexe hätte sie vergessen, erhob sich wieder ein kräftiger Wind in den Bäumen.
»Geh ein Stück nach Süden, bis zum Spiegelteich. Spring hindurch und du wirst zu uns gelangen.«
Der Wind war völlig abgeflaut. Und mit ihm war die Xix verschwunden.
Melina hatte von Tann in den letzten Tagen gelernt, Norden von Süden zu unterscheiden. In der Hoffnung, dass sie sich nicht irrte, ging sie voran in die Dunkelheit. Erel und Tann folgten ihr, aber mit jedem Schritt verschwammen ihre Gestalten mehr und mehr.
Nach wenigen Minuten erreichten sie eine Lichtung. Melina trat zwischen den Bäumen hervor und stand vor einem See mitten im Wald. Die im Mondlicht schimmernden Wolken spiegelten sich im dunklen Wasser und schienen den nächtlichen Wald zu beleuchten. Ratlos stand Melina am Ufer. Ob das der Teich war, den die Hexe gemeint hatte? Auf einmal entdeckte sie, dass die Oberfläche nicht nur den Himmel widerspiegelte. Als eine Wolke über den Mond zog und es kurz dunkel wurde, erschienen drei Gesichter im Teich, die ihr entgegenblickten. Die Hexe, die sie hergeschickt hatte, und zwei weitere Frauen mit ebenso grauen Kleidern und silbernem Haar. Eine von ihnen streckte die Hand aus und lockte mit einem ihrer knorrigen Finger. Die Zeichensprache war deutlich.
Melina trat einen Schritt zurück. »In das kalte Wasser? Ist es vielleicht einfacher für euch, wenn ich mich selbst umbringe?«
»Halt den Mund«, knarrte eine Stimme aus den Bäumen. »Tu es einfach – du wirst nicht nass!«
Melina traute ihnen nicht und zweifelnd sah sie sich nach Tann und Erel um. Doch es gab keine Gesichter mehr, in denen sie nach einem Rat forschen konnte. Nur noch Nebel. Das gab den Ausschlag. Sie sprang ohne einen weiteren Gedanken, sprang in Wasser, das sich überhaupt nicht wie Wasser anfühlte. Es umhüllte sie wie ein kühles Tuch, versetzte sie in Panik, als sie die Orientierung verlor – und ließ sie dann wieder los. Als sie wieder auftauchte, befand sie sich in einem anderen Teich. Oder nein: auf der anderen Seite des Teiches, und am Ufer standen drei Hexen. Ein platschendes Geräusch neben Melina ließ sie herumfahren: Neben ihr schwammen Tann und Erel, Wasser tretend und verwirrt. Warum waren sie mitgekommen? Ob sie in ihrem Zustand überhaupt schwimmen konnten?
»Kommt!« Verzweifelt streckte sie den beiden vom grasbewachsenen Ufer aus ihre Hand entgegen. Aber sie reagierten nicht. Die Hexen beobachteten das Schauspiel mit verschlossenen Gesichtern.
»Bitte helft ihnen«, rief Melina ihnen zu.
»Das sind Nebelwesen! Schick sie wieder zurück!«, befahl die Xix, die Melina aus dem Wald kannte. Wütend schwamm Melina Erel und Tann entgegen und zog sie mit aller Kraft an Land. Als sie ans Ufer kletterte, drehte sie sich mit hochrotem Kopf zu den Hexen um. »Vielen Dank für die Hilfe! Wisst ihr eigentlich, warum diese beiden zu Nebel geworden sind? Weil wir euch gesucht haben, um
euch
zu warnen. Weil euer blöder Tiegel gestohlen werden soll.«
Die Hexen sahen Melina herablassend an. Das brachte sie endgültig auf die Palme.
»Ich sag euch was: Euer Tiegel interessiert mich so sehr wie das Liebesleben australischer Sandflöhe. Ich will, dass ihr mir Erel und Tann wiedergebt, und zwar so, wie ich sie kenne! Danach werden wir eure Gastfreundschaft nicht länger beanspruchen.«
»Wir sollten sie zurück in den See werfen«, murrte eine der Hexen, die besonders groß und knochig war.
»Nicht bevor Selyke mit ihr gesprochen hat«, mahnte eine andere.
Die dritte, die eine dicke Warze auf der Wange trug, schüttelte sich. »Sie riecht nicht nach Lamunee.«
»Ach? Woher soll sie denn kommen? Du hast doch gesehen, dass sie aus dem See …«
Die erste Hexe verstummte, als hinter ihr eine weitere Xix eintraf. Ehrerbietig machte sie ihr Platz. Melinas Herz pochte, als sie diese Xix genauer betrachtete. Sie schien zu schweben, obwohl ihre nackten, knochigen Füße durchaus den Boden berührten. Ihr Gesicht war leichenblass, die Haut spannte über den Wangenknochen wie bei einer Hundertjährigen, und die Finger unter den langen Ärmeln ähnelten grauen Spinnen, die sich unruhig hin und her bewegten.
»Sie ist frech und unverschämt«, erklärte die Große ihr missmutig.
»Sie ist sehr jung«, erwiderte die neu Hinzugekommene und
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