Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
gekommen?“
Das war zu viel. Ich stieß einen hässlichen Laut der Frustration aus und rannte ebenfalls die Treppe hoch, ging ins Schlafzimmer, ließ mich auf das Bett fallen und malträtierte mein Kopfkissen. Irgendwann hörte ich, wie Robert Mutter die Treppe hochbrachte und ihr eine gute Nacht wünschte. Als er ins Bett kam, rutschte ich sofort rüber zu ihm und schmiegte mich an ihn. Ich brauchte jetzt nichts dringender als menschliche Wärme und den vertrauten Duft seiner Haut. Und Frieden, ein wenig Frieden nur.
„ Sag mal, wann haben wir eigentlich als Eltern versagt?“
„ Wie meinst du das, Melissa? Denkst du wirklich, das ist alles allein unsere Schuld, müsste dann nicht auch Hannah ein so schwieriges Kind sein? Wann hat sie eigentlich das letzte Mal angerufen?“
„ Ich glaube vorgestern. Jedenfalls geht es ihr gut. Sie sprach zufrieden von den Kollegen in der Bank und ihrer Arbeit dort.“
„ Das ist schön.“
Wir schwiegen eine ganze Weile und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ich lauschte auf die Geräusche der Nacht und sah zu, wie das Licht des Tages für dieses Mal endgültig schwand und vom hellen, sanften Schein des Mondes ersetzt wurde, der langsam seine Wanderung aufnahm. Ich schauderte beim Gedanken an die Nacht des schwarzen Hahnes, als mein Mädchen den weiten Weg durch Wald und Feld gelaufen war. Ihr Engel Gottes, betete ich im Stillen, ich danke euch für den Schutz, den Miri erhalten hat. Was hätte ihr nicht alles zustoßen können!
„ Hör mal, Robert, habe ich dir eigentlich je von dem Brief erzählt, den Mira mir vererbt hat, mit all den anderen Sachen zusammen?“
Er zuckte leicht zusammen, denn er war schon am Einschlafen gewesen. „Hm? Was für ein Brief?“ Schläfrig legte er sich auf die Seite und zog mich fester an sich heran. „Erzähl.“
„ Es ist ein versiegelter Umschlag gewesen. Mit der Aufschrift Ö ffnen am dunkelsten deiner Tage im Jahre 2012. Ich habe ihn geöffnet, am Abend nach dem Feuer. Er fiel mir entgegen aus dem Fotoalbum, als ihr alle geschlafen habt. So als wüsste er, dass seine Zeit gekommen war. Seltsam, oder? Mira beschreibt dort eine Vision.“
„ Was hat sie denn gesehen?“
„ Sie spricht wörtlich von einem schwarzen Hahn und dem Unheil, dass sein Erscheinen mit sich bringt. Ist das nicht unglaublich? Der Text ist seltsam kryptisch. Ich konnte nicht alles verstehen. Es geht um einen kleinen Raben, der um Hilfe ruft und einen älteren Raben, der „auf den Drachen hören muss“. Ansonsten wäre alles verloren. Kannst du was damit anfangen? Ich glaube ja, dass mit dem kleinen Raben Miri gemeint ist. Weißt du noch, dass du sie gleich nach der Geburt so genannt hast?“
Der Mond schien inzwischen durch das Schlafzimmerfenster. Es war Vollmond, und so konnte ich sehen, wie ein sanftes Lächeln über sein Gesicht huschte.
„ Oh ja, diesen Moment werde ich nie vergessen. Sie hatte so rabenschwarzes Haar, so wie meines. Sie war wunderschön. Aber Hannah auch. Du hast mir zwei wundervolle Kinder geschenkt, Melissa.“
Ich gab ihm einen zarten Kuss auf die Wange. „Du mir aber auch, alter Rabe“, entgegnete ich. „Aber nun sag, kannst du mit der Vision was anfangen?“
„ Nein, nicht wirklich. Tut mir leid. Aber wenn ich einem Drachen begegnen werde, sage ich dir Bescheid.“
Dann schlief er ein, von einem Moment zum andern, und ließ mich in der Gesellschaft des Mondlichtes mit meinen Gedanken und Ängsten zurück.
Dass Miranda nicht in ihre alten Verhaltensmuster zurückfiel, das hatten wir vor allem Mutter zu verdanken. Ich weiß nicht wie, aber sie hatte es geschafft, ihre Enkelin für das Stricken zu begeistern. Jeden Tag saßen sie einträchtig beieinander und strickten um die Wette. Es bereitete Miranda keine große Mühe, die Geheimnisse des Strickens zu erforschen. Selbst wenn ihr einige Maschen runterfielen, verlor sie nicht die Geduld. Erstaunlich! Und vor allem: erfreulich. Oma und Enkelin plauderten angeregt beim Handarbeiten. Mal saßen sie unter der Linde auf der Holzbank, mal auf dem Sofa im Wohnzimmer, wenn die Sommerhitze Mutter zu schaffen machte.
So hatte ich endlich etwas Freiraum für eigenes Schaffen. Ich zeichnete Entwürfe für eine moderne Märchensammlung, die im Herbst im Sonnenkäfer-Verlag erscheinen sollte. Den Auftrag für die Illustration der einzelnen Märchen hatte glücklicherweise ich erhalten, außerdem sollte ich noch einige Cover für andere Neuerscheinungen anfertigen.
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