Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
abgerissenen Knopf geworfen, der im Burghof im Sande lag: auf ihm das Wappen des Kleinen Landes hinter den Westbergen. Nun wussten sie, wer hinter dieser ruchlosen Tat steckte. Die Garde des Königs sattelte die Pferde, bewaffnete sich bis an die Zähne und entzündete große Laternen, um den Weg zu erhellen. Sie schlugen am Fuße der Westberge ihr Lager auf und mussten die Nacht abwarten. Denn es war eine Neumondnacht und große, regenschwere Wolken hatten das Funkeln der Sterne verhüllt.
Doch am nächsten Morgen verzweifelten der König und seine Männer. Der Weg zur Schlucht war unauffindbar. Sie konnten den Bergpass nicht erreichen. Es war wie verhext!
Verhext? Oh ja!
An dieser Stelle unterbrach ich und legte den Schreibblock beiseite. Es war Zeit für das Mittagessen. Ich ging in die Küche und buk Pfannkuchen, die ich mit Erbsen und Bearnaisesoße füllte, aufrollte, in eine Form schichtete, und dann mit Bechamèlsoße und geriebenen Käse bedeckte. Währenddessen heizte der Ofen auf. Es roch immer noch etwas rauchig in der Küche. Die Küchenschränke hatten förmlich den Brandgeruch in sich aufgesogen. Ich versprühte etwas Wasser mit ätherischem Orangenöl. Für eine Weile schaffte der frische Duft Abhilfe.
Nach der Mahlzeit versuchte ich erneut, mit Mutter ins Gespräch zu kommen. Ich wollte unbedingt mit ihr zu der Beratungsstelle der Sozial- und Diakoniestation. Doch es war „wie verhext“, ich konnte sie nicht davon überzeugen, sich wenigstens mal über die Möglichkeiten eines betreuten Wohnens in unserer Gegend zu informieren. Sie sei schließlich keine alte Idiotin!
Langsam bekam ich eine Vorstellung davon, warum Onkel Walther und Mutter zerstritten waren. Sie reagierte äußerst feindselig, sobald man sie auf ihr „Alter“ ansprach. Dabei wollte ich doch nur helfen. Aber ihre Einsichtsfähigkeit war sehr eingeschränkt. Sehr! Ich sprach mit meiner Tochter darüber, ob sie es sich zutrauen würde, mal ein oder zwei Stunden mit der Oma allein zu sein und auf sie aufzupassen. Ich wollte unbedingt persönlich zu dieser Beratungsstelle. Doch kurz darauf packte mich eine fiese Sommergrippe, und ich musste meinen Termin dort absagen. Es war wieder „wie verhext“! Ich war durch das hohe Fieber tagelang ans Bett gefesselt und erholte mich nur langsam. Wir konnten von Glück sagen, dass nur ich die Grippe bekam und der Rest der Familie gesund blieb. Miranda war in diesen Tagen einfach großartig. Sie übernahm die Verantwortung im Haushalt und beschäftigte auch ihre Oma. Allerdings traute sie sich nicht raus zum Einkaufen. Sie befürchtete, auf Beata und ihre Freunde zu treffen. Zum Glück hatte der große Supermarkt in Fellbach wochentags bis 24 Uhr geöffnet, so dass Robert nach der Arbeit noch hinfahren konnte.
Die Sommerferien neigten sich allmählich dem Ende zu. Langsam wusste ich nicht mehr aus noch ein. Alles wuchs mir über den Kopf. Das Geld wurde immer knapper (obwohl das Inkassobüro einen Außenstand mittlerweile eingetrieben hatte). Mutter war inzwischen gelangweilt und launisch und wollte zurück nach Sylt. Miranda war blass und appetitlos geworden. Die Deadline für meinen Auftrag vom Sonnenkäfer-Verlag rückte immer näher. Die Entwürfe für die Buchcover hatte ich zwar fertig, aber ich musste sie noch zur Druckreife bringen. Wann sollte ich das bloß machen? Bald würden die Sommerferien enden, und dann musste ich auch schon den nächsten Kurs für die VHS abhalten. Eigentlich hatte ich mir für diesen Sommer vorgenommen, die arg in die Jahre gekommene Kräuterspirale neu zu bepflanzen und auch die fehlenden Steine zu ersetzen. Miri hatte uns gebeten, die Kaninchenställe abzureißen, denn sie konnte den Anblick nicht länger ertragen. Das konnte ich gut verstehen. Wir würden das auch sehr bald in Angriff nehmen, versprach ich ihr. Und mir fiel siedend heiß ein, dass ich dem Klassenlehrer versprochen hatte, einen Psychologen zu Rate zu ziehen. Darüber musste ich mit Miri noch sprechen. Hoffentlich weigerte sie sich nicht mitzukommen. Das Treppengitter war immer noch nicht angebracht, nicht mal gekauft. Die Küche wollte ich ja auch neu streichen. Allein der Gedanke an das, was ich vor mir herschob und was alles bewältigt werden wollte, machte mich müde. Im Spiegel sah ich neuerdings Längsfältchen unter meinen Augen, keine Mimikfalten, sondern richtige schlaffe, „alte“ Falten. Müdes Gewebe, kraftlos. Saftlos. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich noch im
Weitere Kostenlose Bücher