Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
ignorierte so gut es ging, die Stimmen aus dem Nebenzimmer und konzentrierte mich auf meinen Atem und den Duft der Badeessenz. Das Wohlgefühl bescherte mir neue Inhalte für das Märchen. Die kleine Prinzessin entstand wieder in meiner Fantasie. Welches Verhalten würde sie in ihrer misslichen Lage zeigen? War sie ein weinerliches, verwöhntes Prinzesslein, oder doch eher ein energisches Kind, das sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ? Ich spielte im Geiste verschiedene Szenarien durch und suchte nach einem Namen für sie. Schön und strahlend sollte er sein, so wie ihr langes, goldenes Haar. Und ich wollte auch selber meinen Spaß an der Geschichte haben, also würde ich einen Garten einbauen in die Handlung. Oh ja, ein Garten hat etwas Heilendes, Tröstendes. Für mich. Also auch für die Prinzessin. Ja, ganz klar. Sie würde kein verwöhntes Ding sein. Ich malte mir ein selbstbewusstes Mädchen aus, das ihren Entführern zeigte, dass sie durchaus in der Lage war, das Beste aus der Situation zu machen.
Während ich mich in der Märchenwelt treiben ließ, wurde das Wasser immer kälter. Ich richtete mich auf und ließ heißes Wasser nachlaufen. Robert konnte das nicht verstehen, dass ich selbst im Sommer heiße Bäder nahm. Aber Wärme war nun mal mein Allheilmittel für mich, meine erste Wahl, bevor ich zu anderen Mitteln griff.
Robert blieb seltsam lange weg. Selbst als ich schon eingecremt und mit trockenen Haaren in meinem Bademantel im Wohnzimmer saß, war er noch draußen. Komisch, dass ich ihn gar nicht hörte. Ich schlüpfte in meine Gartenschuhe, die an der Hintertür standen und ging raus, ihn zu suchen. Kein Robert weit und breit. Der Wagen schien fertig beladen zu sein. Auch auf der großen Wiese hinter dem Hausgarten war er nicht zu sehen. Ich ging wieder ins Haus und half Mutter, sich bettfertig zu machen. Sie hatte sich inzwischen beruhigt. Ich löste ihren Haarknoten. Sie hatte schlohweißes Haar, das von nur wenigen grauen Strähnen durchzogen war und ich bürstete es mit langen, ruhigen Strichen durch. Mutter liebte dieses Abendritual. Als ich noch ein kleines Mädchen war, hatte sie es Abend für Abend für mich getan.
„ Mama, weißt du noch? Ich hatte eine eigene Frisierkommode aus dunklem Holz. Der Spiegel war umrahmt mit einer Schnitzerei. Lauter kleine Vögel und Blätter und Beeren. Er war wunderschön. Wo ist er eigentlich abgeblieben?“
Mutter dachte kurz nach und lächelte dann. „Ah, ich weiß! Den hat das Heimatmuseum als Leihgabe bekommen, kurz nachdem du ausgezogen warst. Ich hatte ihn zu deinem achten Geburtstag von einem Trödler gekauft. Nur die Holzwürmer wissen, wie alt die Frisierkommode wirklich ist, auf jeden Fall ist sie wunderschön. Damals hatten sie eine Ausstellung gemacht über das Leben von Frauen und Mädchen im 19. Jahrhundert. Alles rund ums Weibliche. Stickereien, Kleidung, Landleben, Stadtleben, Küchenherde und anderes mehr.“
„ Was denn, so alt war die Kommode? Das war mir gar nicht klar. Was meinst du, ob das Museum sie noch hat? Wenn du sie nur als Leihgabe hergegeben hast, könnte man sie doch dort eigentlich wieder abholen. Was meinst du? Ich hätte sie gerne wieder.“
„ Lass uns doch einfach mal nach Möhringen fahren und nachsehen.“
„ Das könnten wir wirklich tun, das wäre doch ein netter Ausflug für uns. Miri nehmen wir mit.“
„ Schade, dass Hannah nicht auch mitkommen kann. Ich habe sie so lange nicht mehr gesehen.“
„ Mama, du weißt doch, sie lebt jetzt in Frankfurt und macht eine Ausbildung zur Bankkauffrau. Sie kommt bestimmt bald mal zu Besuch.“
Ich legte die Bürste beiseite und half ihr, vom Stuhl aufzustehen. Wir wünschten uns eine Gute Nacht und ich ging wieder in die untere Etage. Aber von Robert immer noch keine Spur. Das machte mich nun doch etwas nervös. Es war nicht seine Art, wortlos zu verschwinden. Aber vielleicht war er auch nur auf einen Sprung bei den Nachbarn und klönte mit Hans und hatte darüber die Zeit vergessen. Kurz überlegte ich, auch schon ins Bett zu gehen. Aber dann entschied ich mich, die Zeit zum Schreiben zu nutzen. Die Prinzessin war mir noch nah. Ich schnappte mir meinen Block und den angeknabberten Bleistift und schrieb das Märchen weiter:
Wochen und Monate zogen ins Land. Der König hatte eine hohe Belohnung ausgesetzt für denjenigen, der den Weg über die Berge finden würde. Viele kamen, viele gingen. Nicht einer hatte Erfolg. Und so kam es, dass die Prinzessin viele
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