Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
Sitzfläche. Die kleine Prinzessin nahm dort selig Platz und vergaß für einige wundervolle Minuten, dass sie Opfer einer infamen Entführung war. Langsam sank die Sonne, sie verschwand gerade hinter der Mauer. Es wurde kühler und sie fröstelte nach einiger Zeit, denn ihren Wollumhang hatte sie beim Krabbeln durch das Loch in der Mauer verloren. Sie öffnete ihre Augen und atmete noch einmal tief ein und genoss die vielfältigen Düfte. Als sie sich anschickte, zum Hauptmann zurückzukehren, war ihr, als raschelte es im Farn hinter ihr. Rasch drehte sie sich um, doch da war nichts. Nur der Farn bebte ein wenig. Da sie auch hungrig war, eilte sie zum Ausgang und kroch wieder durch die Lücke im Mauerwerk. Der Hauptmann war heilfroh, sie unversehrt ins Schloss zurückbringen zu können. „Morgen will ich wieder dorthin“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Von nun an verbrachte sie Tag für Tag trostreiche Stunden des Spiels und des Tagträumens im verwunschenen Garten. Vom Hauptmann, der ihr längst ein Freund und Beschützer geworden war, hatte sie sich Gartengerätschaften erbeten. Was er heimlich entwenden konnte, gab er ihr. Mit viel Liebe und Hingabe pflegte sie nun unermüdlich die Beete, befreite die duftenden Rosen von wuchernden Schlingpflanzen, lockerte die Erde und schnitt das Gras. Und jeden Tag raschelte es im Gebüsch. Längst hatte sie es gesehen, das kleine Pferd, nicht viel größer als ihre Hand. Geduldig, wie nur eine Sonnenprinzessin es sein kann, wartete sie darauf, dass es voller Vertrauen zu ihr kommen möge. Und schließlich war es soweit. Neugierig trabte es zu ihr und stupste sie an. Es wieherte fröhlich und scharrte mit seinen kleinen Hufen. Es war schneeweiß, hatte eine violette Mähne und diese duftete nach Lavendel!
„ Wer bist denn du, Pferdchen?“ Aurelia streichelte zart mit einem Finger über das Fell. Es fühlte sich wie Samt an. Das Lavendelpferd schmiegte sich für einen kurzen Moment in ihr Händchen und galoppierte dann davon in Richtung Rosenbeet. Vorsichtig folgte die Prinzessin dem wunderlichen Geschöpf und setzte achtsam ihre Schritte. Inmitten der roten Rosen ließ sie sich nieder und sog dankbar deren Duft ein. Das Pferdchen umkreiste auffällig eine bestimmte, niedriggewachsene Rose. Neugierig geworden steckte Aurelia ihre kleine Nase in die schönste Blüte dieses Rosenbusches. Au! Etwas hatte sie gepiekst. Aber das war kein Dorn gewesen. Die Blüte öffnete sich weit und das wunder-wunder-allerwunderschönste Geschöpf, das jemals auf Erden gesehen worden war, stieg anmutig heraus und sprang Aurelia in die Hand. Mit großen Augen starrte die Prinzessin es an, sie wagte kaum zu atmen. „Du musst ein Roseneinhorn sein! Denn du bist ein Pferdchen mit einem Horn, das silbern schimmert, schöner als der Vollmond, also bist du ein Einhorn, und du duftest nach Rosen, so wie das andere Pferdchen nach Lavendel duftet. Ihr seid wahrlich zauberhafte Geschöpfe. Wie kann das sein, dass Wesen wie ihr in der Nähe des armseligsten Schlosses leben, das es auf dieser Welt gibt? Der Fürst ist ein wahrer Trauerkloß, sein Volk lässt er hungern und darben. Und mich hat er entführen lassen, und nun lebe ich fern als Gefangene, fern meiner lieben Eltern!“
Die kleine Prinzessin schluchzte gar bitterlich. So sehr sie auch im Garten glücklich war, jetzt brach die Erinnerung an ihr Zuhause durch und sie hatte solche große Sehnsucht nach Mama und Papa und ihrem zotteligem Pony.
„ Du liebes Kind, trockne deine Tränen. Die Zeit deiner Gefangenschaft geht zuende.“ Verwundert hörte sie auf zu schluchzen und hickste ein, zwei Mal und schaute sich um. Wer hatte zu ihr gesprochen? Es war, als würde der ganze Garten mit einer Stimme zu ihr sprechen, aber nicht ihre Ohren hörten die Worte, sondern die Worte waren in ihr!
„ Das ist das Herzenhören. Sei nicht bange. Bevor der Mond wieder voll wird, wirst du zuhause sein. Vertraue, liebes Kind. Ich bin der gute Geist dieses Gartens, der durch seine Geschöpfe spricht. Versprich mir, dass du das nächste Mal den Fürsten mitbringst. Es bleibt ihm nur wenig Zeit, sich und sein Volk zu retten. Aber sage niemandem ein Wort von uns. Sie würden dir nicht glauben.“
„ Ich will es versuchen. Ja, ich verspreche es dir!“ Das Roseneinhorn sprang von der Hand und begann vor Freude zu tanzen. Aus seinem Horn stiegen buntschillernde Blasen empor, hauchzart. Sie schwebten durch die Luft und jedes Mal, wenn sie etwas berührten, zerplatzten
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