Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
Gegenüber dazu ein. Hannah nahm den letzten Zug nach Frankfurt. Und so ging die gemeinsame Zeit viel zu schnell vorbei, und es war Montagmorgen.
Zeit, Mutters Koffer zu packen. Es drängte sie, nach Sylt zurückzukehren. Ihr fehlten das Meer, die Strände und die Möwen.
Es mussten auch für Robert Sachen gepackt werden. Diese Woche würden Matthias und er in Marktredwitz logieren und den Feng Shui Garten für die Pflanzung vorbereiten. Der Weg ins Fichtelgebirge war so weit, dass sich die Unterkunft im Ort rentierte. Immerhin betrug eine Strecke 350 km. Wieso diese Leute keinen Landschaftsgärtner aus ihrer Ecke engagierten, war mir ein Rätsel. Aber vielleicht hatten wir ja einen guten Ruf, weit über unsere Gegend hinaus? Am Samstagabend wollten die Männer zurück sein. Ich winkte ihnen nach und konzentrierte mich dann auf meine eigenen Vorhaben.
Miri und ich mussten auch eine Tasche packen, denn wir würden mindestens eine Nacht auf Sylt verbringen. Ich musste unbedingt persönlich in der Diakonie auf Sylt vorsprechen und Mutter im Altenzentrum Westerland anmelden. Sie konnte unmöglich länger allein in der Wohnung bleiben, ob ihr das nun recht war oder nicht.
„ Mutter, ich bringe jetzt deine Sachen ins Auto. Und dann komme ich wieder hoch und helfe dir die Treppe runter, ja?“
Ich schnappte mir das Gepäck, brachte es zum Auto und verstaute es im Kofferraum. Möglich, dass das Schicksal einen anderen Weg genommen hätte, wenn in diesem Moment nicht unser Nachbar Hans und seine Frau vorbeigekommen wären und wir nicht eine Weile geplaudert hätten. Es ist müßig, darüber zu grübeln.
Mutter wartete nicht auf mich und stürzte die Treppe hinunter.
Aus Mirandas Tagebuch
Warum passieren in letzter Zeit so viele schlimme Dinge? Der Hahn, das Kaninchen, und nun auch noch Oma! Ich kann den Schmerzensschrei nicht vergessen. Er steckt mir in den Knochen. Ich bin schuld daran. Ich bin an allem schuld! Dass Mama unten beim Auto war, wusste ich ja. Aber mir war es wichtiger, den Fleck aus meiner Jeans zu reiben, anstatt auf Oma zu achten. Weil ich mit dem iPod Musik hörte, habe ich nicht gemerkt, dass sie allein die Treppe runterging. Und jetzt liegt sie im Krankenhaus. Oberschenkelhalsfraktur und schwere Prellungen, hat der Arzt gesagt. Mama und ich besuchen sie jeden Tag. Oma ist ganz verwirrt. Die Schwester meinte, das käme auch von der Narkose, viele alte Leute würden mit Unruhe und Orientierungslosigkeit darauf reagieren.
Ich wünschte, wenigstens Papa wäre zuhause. Sogar über Hannah würde ich mich freuen. Mama ist völlig von der Rolle. Sie gibt sich selbst die Schuld. Aber es ist meine. Ich tauge zu nichts. Und nun hat Mama, pflichtbewusst wie immer, doch noch einen Termin beim Psychologen für mich gemacht. Weil Herr Reimann ihr das eingeredet hat. Wozu soll das gut sein? Ich ziehe eben das Unglück an, so wie ein Kuhfladen die Schmeißfliegen. Wie ein Misthaufen die Ratten.
Am besten, ich haue ab. Irgendwann. Oder bald. Bevor hier noch mehr passiert.
Ich fühlte mich elend. Und schuldig. Hätten wir … das Treppengitter bloß sofort gekauft. Hätte ich … mich nicht von den Nachbarn zu einem Schwatz hinreißen lassen. Aber trug ich wirklich die Verantwortung für alles und jedes? Diese Grübelei raubte mir den letzten Nerv, aber unterbinden konnte ich sie auch nicht. Ich versuchte krampfhaft, mich auf die Erfordernisse des jeweiligen Tages zu konzentrieren, doch die grauen Gedankennebel schlichen sich durch jedes unbewachte Hintertürchen wieder ein. Miri war noch stiller geworden. Ich konnte sie einfach nicht mehr erreichen. Hilflos sah ich zu, wie sie in Lethargie und Traurigkeit versank. War das noch ein Problem der Pubertät oder schon eine ernste seelische Erkrankung? Wie konnte ich ihr helfen, wenn sie nicht mit mir sprach? Was hatte ich denn nur getan, dass sie mich so sehr aus ihrem Leben ausschloss?
Ich war erleichtert, als Robert aus Marktredwitz zurückkehrte. Wir mussten Entscheidungen treffen. Die Ärzte hatten mir gesagt, dass Mutters Zustand kein eigenständiges Wohnen mehr erlaubte. Eine Reha nach dem Krankenhausaufenthalt mit dem Ziel der Mobilisierung lehnte die Krankenkasse ab aufgrund ihres hohen Alters und der Demenz. Das Pflegeheim blieb die einzige Möglichkeit, und so wurde eine Pflegestufe beantragt. Was ich nicht gewusst hatte war, dass in Mutters Handtasche eine Patientenverfügung und eine Vollmacht gelegen hatten. Die hatte sie offenbar schon
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