Melmoth der Wanderer
oder aber, um bei gen Osten aufgetanem Fenster zu beten, auf daß der Zorn Gottes von Jakob genommen, und die neue Gefangenschaft Zions abgewendet werde. Noch ist die Silberne Schnur nicht gelöset, noch die Goldene Schale nicht zerbrochen. Und dieweil mir die Augen auch trübe werden, so ist mir doch nicht die Kraft meines Leibes gemindert.‹ (Wie er so sprach, hingen meine Blicke ehrfurchtsvoll an der hehren, majestätischen Erscheinung seiner patriarchalischen Gestalt, und es ward mir, als hätte ich eine Verkörperung des Alten Gesetzes in all seiner strengen Einfachheit vor Augen – in der unbeugsamen Größe und Vorzeitlichkeit allen Ursprungs.) ›Bist du nun gespeiset und gesättiget? So steh denn auf und folge mir nach.‹
Wir stiegen zu dem Gewölbe hinab, wo, wie ich feststellen konnte, die Lampe niemals gelöscht wurde. Adonaia aber sprach, indem er mir die auf dem Tisch liegenden Pergamentrollen wies: ›Dies ist das Werk, zu welchem ich deiner Hülfe bedarf. Diese Blätter zu sammeln und zu transkribieren hat die Arbeit von mehr als einem halben Menschenleben verschlungen, einem Menschenleben, das die Grenzen, welche der Sterblichkeit gesetzt sind, bei weitem überschritten hat. Indes‹, und er wies auf seine eingesunkenen, blutdurchäderten Augen, ›die da aus ihren Fenstern blicken, beginnen sich zu verdunkeln, und ich spüre, daß ich der flinken Hand und des klaren Auges der Jugend bedarf. Dies ist der Grund, aus welchem ich, da mir durch unsern Bruder verbrieft war, du wärest ein Jüngling, der die Schreibfeder wohl zu führen verstünde, und bedürftest darüber hinaus, auch noch einen festen Platz und starke Mauerzinnen wider deine rings gegen dich auf der Lauer liegenden Brüder, eingewilligt, dich unter meinem Dache aufzunehmen, auf daß du nach Herzenslust äßest von dem, so ich dir vorsetze, mit Ausnahme der abscheulichen Dinge, die der Prophet uns zu genießen verbietet. Und sollst auch noch Lohn dafür empfangen, als wärest du ein bezahlter Diener des Hauses.‹
Solche Worte verfehlten nicht ihre Wirkung auf mich zu üben, und so fragte ich mit ehrlicher Besorgnis nach dem weiteren Schicksal des Jüden Salomon, dem ja die Unbill, die ihm durch meine Beherbergung erwachsen, auch noch den Besuch der Inquisitoren eingetragen.
›Sei ohne Sorge‹, erwiderte Adonaia, indem er mit einer lässigen Geste seiner knochigen, runzligen Hand diesen Gegenstand als einen im Moment unerheblichen abtat. ›Unser Bruder Salomon ist aller Todesgefahr entrückt. Auch wird er seiner Güter nicht verlustig gehen. Und sind unsere Widersacher groß in der Gewalt, so sind wir nicht minder groß an Reichtum und Weisheit, solcher Gewalt zu begegnen. Den Weg deiner Flucht vermögen sie nimmer aufzuspüren, so wenig, wie ihnen dein Dasein auf dieser Erde jemals offenbar werden kann. So magst du getrost auf meine Worte bauen und sie bewahren in deinem Herzen.‹
Ich brachte kein Wort über die Lippen, doch mein stummer, flehender Blick war beredt genug.
›Du hast‹, so sagte Adonaia, ›in der letzten Nacht Worte gesprochen, von deren Klang, obschon ich mich nicht mehr all ihrer Bedeutung entsinne, mir annoch die Ohren erdröhnen. Und hat mein Ohr doch hienieden vier deiner Jünglingsalter ohne solch einen Laut überdauert. Du aber sprachest, du wärest dem Ansturm einer Macht ausgesetzt, so dich versuchete, du mögest dich lossagen vom Höchsten des Hohen, dem da Jüden wie Christen zu huldigen gelobet. Und bekräftigtest, du würdest noch inmitten aufzüngelnder Flammen deinen Versucher anspeien und sein Angebot mit Füßen treten, und stündest du gleich auf der Kohlenglut, so des Dominikus Söhne unter deiner Sohle Nacktheit angefachet hätten.‹
›So sagte ich‹, rief ich aus, ›so sagte ich – und würde es tun – möge Gott mir beistehen in meiner letzten Not!‹
Adonaia schwieg eine Zeitlang, als erwöge er, ob dies nun ein Ausbruch meiner Leidenschaft, oder aber die Bezeugung meiner Seelenstärke gewesen sei. Schließlich schien er der Meinung zuzuneigen, es handle sich um die letztere, obschon die hochbetagten Menschen alle Anzeichen von Gefühlsaufwallung nur zu gern mit scheelem Blick als eine Bekundung der Schwäche, nicht aber der Aufrechtheit betrachten. ›Wohlan‹, so sprach er nach einer langen, gewichtigen Pause, ›wohlan, so sollst du wissen um das Geheimnis, das auf Adonaias Seele lastet wie die Verlassenheit auf der Seele dessen, der da die Wüste durchquert, ohne daß ein
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