Melmoth der Wanderer
wiederholte die Inderin ihr ›Ich weiß es nicht‹, und tat dies mit all der angeborenen und anmutigen List, welche das schwache Geschlecht befähigt, sein Denken in Worte zu kleiden, die dem Gemeinten zu widersprechen scheinen. Denn solches ›Ich weiß es nicht‹ bedeutet ja in Wahrheit ›Ich weiß es nur zu gut.‹
Ihr Gesprächspartner verstand denn auch nur zu gut und genoß seinen Triumph im voraus. ›Was aber macht dich weinen, Immalee?‹
›Ich weiß es nicht‹, erwiderte die arme Inderin.
Bei diesen Worten vergaß sich der Fremde für einen Augenblick. Er empfand jenen traurigen Triumph, der dem Sieger mehr Verlust als Gewinn einträgt, so daß kein Eroberer solchen Erfolges richtig froh werden kann. Wider seinen Willen wurde ihm die Seele von einem menschlichen Fühlen durchdrungen, so daß er mit einer ihm unvertrauten Sanftheit fragte: ›Was möchtest du, daß ich tue?‹
Die Schwierigkeit, sich sowohl verständlich als auch zurückhaltend auszudrücken, in einer Sprache also, welche zwar der Sprecherin Wünsche, nicht aber deren Herz enthüllen sollte, sowie die gänzlich neue Art ihres Empfindens ließen Immalee lange zaudern, ehe sie sich zu einer Antwort aufraffte. ›So bleib bei mir‹, sagte sie schließlich. ›Geh nicht zurück in jene Welt des Unglücks und der Schmerzen.‹
Das hemmungslose, mißtönende Gelächter ihres Gesprächspartners erschreckte Immalee und ließ sie verstummen. ›Bedauernswertes Mädchen‹, rief er aus, in jener Verquickung von Erbarmnis und Erbitterung, welche so furchterregend, wie demütigend ist. ›Glaubst du wahrhaftig, dies sei mein Geschick? Dem Zwitschern deiner Vögel nur zu lauschen, dem Aufblühn all der Knospen zuzusehn? Soll dies mein Los sein?‹ Und indem er abermals sein unnatürliches Lachen anschlug, stieß er die Hand zurück, welche Immalee, nachdem sie ihre schlichte Bitte ausgesprochen, ihm entgegengestreckt hatte. – ›Ohne jeden Zweifel, ich bin der rechte Mann, um dieses Los mit diesem Kind zu teilen!‹ Und mit noch größerem Grimm fragte er: ›Sag an, was ist’s, das dich in meinen Zügen, in meiner Stimme oder meinen Worten dazu verleitet, auf ein Glück zu hoffen, das mir im Innersten zuwider ist?‹
Immalee fand genug Rückhalt in ihrem jungfräulichen Stolz und dem ihr angeborenen weiblichen Scharfsinn, um zu erkennen, daß der Fremde sie verschmäht hatte. Eine Aufwallung schmerzlichster Entrüstung drohte alle Sanftheit ihres hingebungsvollen, entblößten Herzens hinwegzuschwemmen. Nach kurzem Schweigen sagte sie in ihrem entschlossensten Ton: ›Geh denn zurück in deine Welt – geh, wenn du unglücklich sein willst! – Ach, als könnte man bloß dort unglücklich sein! Wird’s mir hier denn anders ergehen? – So geh, – doch nimm diese Rosen mit dir, weil sie allesamt verwelken müssen, sobald du fort bist! Und nimm auch diese Muscheln mit, da ich dieselben nimmer tragen werde, sobald dein Aug’ nicht mehr auf ihnen ruht!‹ Dies gesagt, löste sie die Blumen aus dem Haar, die Muscheln von der Brust und schleuderte ihm beides vor die Füße. Und, da sie ihm noch einen letzten, schmerzlich-hoheitsvollen Blick gegeben, wandte sie sich von ihm ab und schritt von dannen.
›Bleib, Immalee, so bleib doch, hör mich an!‹ rief da der Fremde. Und vielleicht hätte er in diesem Augenblick das unaussprechlich grausige Geheimnis seines Schicksals preisgegeben. Doch Immalee, in einem Schweigen, das ihr gramvoller Blick beredet genug machte, schüttelte traurig das abgewandte Haupt und schritt ihres Weges weiter, bis sie dem Fremden aus den Augen war.«
ACHTZEHNTES KAPITEL
Miseram me omnia terent, et maris conitus,
et scopuli, et solitudo, et sanctitudo Apollini [17]
Lateinisches Spiel
»Viele Tage gingen dahin, ehe der Fremde wieder das Eiland besuchte. Allein, er mußte viele Pfade queren, die vor ihm noch kein Fuß betreten hatte, und viele Zweige auseinanderbiegen, die bebend sich dem fremden Griffe sträubten, und viele Wasserläufe überschreiten, in die noch keines Menschen Fuß getaucht, bevor er jenen Ort entdecken konnte, wo seine Immalee verborgen war.
Doch es hatte nicht in ihrer Absicht gelegen, sich zu verbergen. Da der Fremde ihrer ansichtig wurde, stand sie gegen einen Felsen gelehnt. Ihr zu Füßen murmelte der Ozean sein ewiges Lied, und sie selbst hatte sich den ödesten, verlassensten Platz, den sie hatte entdecken können, zum Aufenthalt erwählt. Keine Blume, kein Strauch, die hier
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