Melmoth der Wanderer
ist es schon bald ein Jahr her, daß ich Eure Nachricht erhalten, worin Ihr mir Mitteilung von der Wiederauffindung unsrer Tochter gemacht, welche ich seit deren Säuglingsalter zusamt ihrer Amme auf jener indischen Reise verschollen geglaubt. Ich hätte Euer Schreiben schon früher beantwortet, wären mir meine Geschäfte nicht beständig hinderlich gewesen.
So möchte ich Euch denn nunmehr versichern, daß mich der Umstand, eine Tochter wiedergewonnen zu haben, nicht in dem Maß entzückt wie jener andere, daß dadurch dem Himmel eine Seele, ein Wesen e faucibus Draconis – e profundus Barathri [aus den Schlünden des Drakon, aus den Tiefen des Barathrus] wiedergegeben ist, welch letztere Worte unser Pater José Eurem beschränkteren Verständnis auseinandersetzen möge.
Ich vertraue »darauf, daß durch den geistlichen Eifer jenes frommen Gottesmanns und Dieners der Kirche dies Kind nun in allen nötigen Punkten und in dem Maße zu einer vollständigen Katholikin geworden ist – in den absoluten, den unentschiedenen und unfaßbaren ebenso wie in den äußerlichen, den wesentlichen, den läßlichen und unerläßlichen –, wie es der Tochter eines auf seinen alten Glauben stolzen (obschon dieser Ehre durchaus unwerten) Christen zukommt. Darüber hinaus erwarte ich, sie als eine echt spanische Jungfrau vorzufinden, ausgestattet und vervollkommnet mit all den Tugenden, die dem Wesen solcher Jungfräulichkeit geziemen, insbesondere also mit hinlänglicher Diskretion und Zurückhaltung. Es sind dies ja jene Eigenschaften, welche ich jederzeit an Euch selbst wahrgenommen habe, so daß ich mit Recht erhoffen darf, Ihr werdet alle Mühe daran gewendet haben, dieselben auch auf das Kind zu übertragen – welche Weitergabe den Empfänger ja so sehr bereichert, den Geber aber um nichts ärmer macht.
Schließlich, da ja die Jungfrauen für ihre Keuschheit und Zurückhaltung durch die Verheiratung mit einem würdigen Gemahl belohnt werden sollen, ist es die Pflicht eines fürsorglichen Vaters, solchen Ehegemach für seine Tochter auszuwählen, auf daß dieselbe ihr heiratsfähiges Alter nicht überschreite und nicht in Unzufriedenheit und Vernachlässigung als eine von dem anderen Geschlecht Übersehene zu Hause sitzen bleibe. Deshalb hat meine väterliche Fürsorge mich bewogen, den künftigen Gemahl meiner Tochter mit mir zu bringen. Es ist dies Don Gregorio Montilla, dessen Vorzüge hier des Langen und Breiten zu erörtern es mir an Muße gebricht, deren Würdigung durch meine Tochter als ein pflichtbewußtes Kind und durch Euch als ein gehorsames Eheweib ich aber voll Zuversicht entgegensehe.
FRANCISCO DI ALIAGA
›Du hast nun den Brief deines Vaters vernommen, meine Tochter‹, sagte Donna Clara, während sie sich für eine längere Rede in Positur setzte ›und wirst nun sicherlich voll Erwartung stillsitzen, um aus meinem Mund eine Zusammenfassung all der Pflichten zu vernehmen, die mit jenem Stand, in den du in naher Zukunft treten sollst, zusammenhängen, und derer, so meine ich, der Hauptsache nach drei sind: will sagen Gehorsam, Schweigsamkeit und Sparsamkeit. Um noch bei dem ersten Punkt zu verweilen, so teilt sich dieser, wie ich es verstehe, zuerst einmal in dreizehn Hauptpunkte und von diesen dreizehn Hauptpunkten, in welche der erste Punkt sich gliedert, sind die elf ersten so finde ich, die nützlichsten. Über die beiden verbleibenden letzten dich aufzuklären, werde ich lieber deinem Ehegemahl überlassen. Zunächst also ...‹
Hier wurde die Sprecherin von einem gedämpften Geräusch unterbrochen, welches indes ihrer Aufmerksamkeit so lange entging, bis das Geschrei der Duenna sie zusammenzucken ließ: ›Heilige Jungfrau, steh mir bei! Madonna Isidora ist in eine Ohnmacht gefallen!‹
Donna Clara senkte ihre Brille, starrte die leblose Gestalt ihrer Tochter an, welche vom Sitzkissen herabgeglitten war und nun ohne zu atmen auf dem Boden hingestreckt lag und sagte nach einigem Schweigen: ›In der Tat, dies ist eine Ohnmacht. Ruft sogleich Hilfe herbei und versucht es mit kaltem Wasser, oder schafft dies Kind an die frische Luft!‹
Man hatte die unselige Isidora vom Boden aufgehoben und an die frische Luft geschafft, deren Hauch auf der Bewußtlosen noch immer so naturverbundene Konstitution den nämlichen Effekt übte wie es, dem Vernehmen nach, das Wasser auf den ombre pex [Fisch-Menschen] tut, der damals auf sämtlichen Gassen und Plätzen Barcelonas in aller Munde war, welche
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