Melmoth der Wanderer
und an Wahnsinn grenzenden Wutausbrüche, wie er sie in letzter Zeit schon des öftern an den Tag gelegt. Offenbar hatte er mit Mißvergnügen bemerkt, daß sein Weib wie gewöhnlich den Löwenanteil für den greisen Vater vorbehalten hatte. Zunächst äugte er mit scheelem Blick hinüber und schalt leise vor sich hin. Dann wurde er schon lauter, wenngleich nicht vernehmlich genug, als daß der schwerhörige Alte, der da mit trägem Behagen sein niederträchtiges Essen hinunterschlang, ihn hätte hören können. Schließlich aber schienen ihn die Leiden seiner Kinder mit solcher Wut zu erfüllen, daß er aufsprang und herausbrüllte: ›Mein Sohn Eberhard verkauft sein eigen Blut an einen Wundarzt, um uns vorm Hungertode zu bewahren [21] ! Meine anderen Kinder feilschen auf den Straßen um Almosen! Und was tust du die ganze Zeit, du alter Tölpel? Steh auf, heb dich hinweg, bettle für uns, sonst laß’ ich dich verhungern ohn’ Erbarmen!‹ Bei diesen Worten holte er drohend gegen den hilflosen Alten aus. Angesichts dieser fürchterlichen Szene schrie Ines gellend auf, dieweil die Kinder sich dazwischenwarfen. Der bedauernswerte, an den Rand des Wahnsinns getriebene Vater schlug wild um sich, doch wurden seine Stöße ohne Klage hingenommen. Sobald aber seine Kräfte sich in solchem Wutausbruch erschöpft hatten, ließ er sich auf seinen Sessel fallen und weinte.
Allein, in diesem Augenblick erhob sich zur Verwunderung und zum Entsetzen aller – bloß Walberg merkte nichts – der Greis, welcher seit der Beerdigung seines Eheweibes nur noch zwischen Bett und Sessel hin und her getappt war, und auch dies nicht ohne fremde Hilfe, plötzlich von seinem Platz und bewegte sich, augenscheinlich in Befolgung solcher Sohnesworte, mit festen, gleichmäßigen Schritten zur Tür. Und so groß war das Entsetzen, das alle empfanden, daß keiner versuchte, ihm zu wehren, und etliche Zeit verstrich, ehe Eberhard die Geistesgegenwart aufbrachte, dem Greis nachzueilen.
Inzwischen hatte Ines ihre Kinder zu Bett geschickt und war so nahe als es ratsam schien an ihren gebrochenen Gatten herangerückt, wobei sie beruhigend auf ihn einsprach. Zunächst wandte der Angeredete sich ihr zu – dann vergrub er das Haupt in seinen Armen und vergoß stille Tränen –, bis er sich schließlich laut aufweinend an seines Weibes Busens warf. Ines aber nutzte den Moment, ihrem Gatten vor Augen zu führen, wie sehr sein Ausbruch sie entsetzt habe, und ihn zu beschwören, Gottes Vergebung für ein Verbrechen zu erflehen, das in ihren Augen dem Vatermord nahekam. Walberg fragte verstört, von was sie denn eigentlich rede? Und da sie unter Schaudern die Worte hervorstieß: ›Von deinem Vater – deinem armen, alten Vater!‹ – lächelte er ihr so geheimnisvoll und in so unnatürlicher Vertraulichkeit zu, daß ihr darüber das Blut in den Adern stocken wollte. Und indem er sich zu ihr neigte, flüsterte er ihr ins Ohr: ›Ich habe keinen Vater mehr! – Er ist tot, – er ist schon lange gestorben! Ich habe ihn in der nämlichen Nacht begraben, da ich auch meiner Mutter das Grab geschaufelt! Armer, alter Mann‹, seufzte er, ›es war wohl das beste für ihn, – was hätte ihn anderes erwartet als Tränen und vielleicht der Hungertod. Doch will ich dir unter dem Siegel der Verschwiegenheit ein Geheimnis anvertrauen, Ines: die ganze Zeit schon habe ich mich gefragt, was es denn sein könnte, das unsere Vorräte so sehr dahinschwinden macht, daß, was gestern noch für vier gereicht, schon heute für einen einzigen zu wenig ist? So hielt ich denn die Augen offen und entdeckte zu guter Letzt – doch dies muß ein Geheimnis bleiben –, wie da ein greises Hungergespenst unserm Haus Tag für Tag seinen Besuch abgestattet. Es trat in der Gestalt eines zerlumpten, alten Weißbarts auf und verschlang alles, was immer da auf den Tisch gekommen, dieweil den Kindern der Hunger aus den Augen sah! Ich aber habe zugeschlagen, – ich habe es verflucht, – habe es verjagt im Namen des Allmächtigen! Nun ist es fort. Oh, es war ein alles verschlingender Dämon!‹
Ines, vom Entsetzen überwältigt über die augenscheinliche Bekundung des Irrsinns, wagte keine Unterbrechung noch Gegenrede, sondern versuchte lediglich, den Sprecher zu beruhigen, wobei sie im stillen den Himmel anflehte, er möge ihren eigenen Geist vor der, wie ihr scheinen wollte, knapp bevorstehenden Umnachtung bewahren. Walberg, ihres zweifelnden Blickes innewerdend, fuhr mit dem stets
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