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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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er es als seine Hauptleidenschaft zu beschönigen pflegte, diese auch als die größte Qual seines Lebens empfand. Er bereiste erneut den Kontinent, kehrte danach in seine englische Heimat zurück, ging weiter jeder Spur nach, fragte aller Orten herum, ließ dieses Fragen sich so manchen Batzen kosten, allein, es blieb alles vergebens. Es war über ihn verhängt, dieses Wesen, das er dreimal unter den sonderbarsten Umständen getroffen, zu Lebzeiten nimmer von Angesicht sehen zu dürfen. Nachdem Stanton im Laufe der ferneren Begebenheiten darauf gekommen war, daß jener Melmoth von irischer Abkunft war, beschloß er, auch diesem Land einen Besuch abzustatten, tat dies aber mit dem Erfolg, auch dort zu keinem Ergebnis zu gelangen, weil er auf keine seiner Fragen eine Antwort erhielt. Die Familie wußte so gut wie nichts über den Gegenstand seiner Suche, oder aber war, falls sie doch etwas gewußt oder vermutet hatte, vorsichtig genug gewesen, dies vor dem Fremdling zu verbergen, so daß Stanton unverrichteter Dinge abziehen mußte. Sonderbar ist der Umstand, daß auch er selbst, wie aus vielen halbverblichenen Seiten des Manuskripts hervorging, keinem Sterblichen gegenüber ein Wort von den Einzelheiten jener Unterredung in dem Tollhaus verlauten ließ, ja, daß, im Gegenteil, die geringste Andeutung bei ihm Ausbrüche von Wut oder auch von Schwermut hervorrief, welche ebenso merkwürdig wie beängstigend waren. Indes, wie dem auch gewesen sein mag, er ließ das Manuskript in der Obhut von Melmoths Familie zurück, vielleicht in Anbetracht des Umstandes, daß es dort, inmitten von soviel Gleichmütigkeit, sowohl was die Neugier als auch jenen Verwandten betraf, sowie all der Unerfahrenheit im Umgang mit Geschriebenem oder Gedrucktem, am sichersten verwahrt sein werde. Tatsächlich hat es ja den Anschein, als hätte Stanton wie jene Menschen gehandelt, welche, in Seenot geraten, ihre Aufzeichnungen und Botschaften einer verkorkten Flasche und hernach dem Meer anvertrauen. Jedenfalls waren die letzten, wieder lesbaren Zeilen des Manuskripts aufschlußreich und sonderbar genug:
    »Ich habe an jedem Ort nach ihm gesucht. – Mehr und mehr wird mir das Begehren, ihm noch einmal zu begegnen, zu einem verzehrenden Feuer, welches mich aushöhlt – und doch zu den unabdingbaren Konditionen meines Lebens zählt. Zuletzt habe ich vergeblich in Irland nach ihm geforscht, wo er, wie ich herausfand, geboren wurde. Und so mag es vielleicht kommen, daß unsere allerletzte Begegnung sich erst drüben, in ...«
    So endete das Manuskript, welches der junge Melmoth in seines Oheims Kabinett vorgefunden. Nachdem er die Lektüre beendet hatte, sank er über dem Tisch, an welchem er dies alles gelesen hatte, zusammen und vergrub das Gesicht in den Armen, wobei ihn ein Schwindelgefühl überkam, und in seinem Innern Betäubung und Aufgewühltheit sich sonderbar vermengten. Nachdem er eine kurze Zeit so gesessen, zwang ihn etwas, sich von seinem Platz zu erheben. Da erblickte er das Gemälde, welches ihn von seiner Leinwand herab beständig anstarrte. Die ganze Zeit über hatte er keine zehn Zoll davon entfernt gesessen, und das Drohende solcher Nachbarschaft schien noch verstärkt durch das zufällig darauffallende, hellere Licht sowie durch den Umstand, daß dies Porträt außer dem jungen Melmoth die einzige Verkörperung eines Menschen in dem Raum darstellte. Melmoth hatte das Gefühl, als wollte das Bild in jedem Moment die Lippen auftun, um ihm eine Mitteilung zu machen.
    Er starrte in Erwiderung jenes Blickes dem Bild in die Augen – kein Laut war in dem Haus vernehmbar –, die beiden waren ganz allein. Erst nach längerer Dauer ließ dies eingebildete Gefühl ein wenig nach. Und wie der Geist nur zu gern von dem einen Extrem in das andere fällt, kam Melmoth nun des Oheims Auftrag wieder in den Sinn, dieses Bildnis zu zerstören. Er griff danach. Zunächst zitterten ihm die Hände, doch schien die vermorschte Leinwand ihn in seinen Anstrengungen noch unterstützen zu wollen. So riß er sie aus ihrem Rahmen, wobei er einen Aufschrei tat, in welchem zur Hälfte das Entsetzen, zur anderen Hälfte aber der Triumph mitschwang. Das Gemälde fiel ihm vor die Füße, und der junge Melmoth erschauerte darüber. Schon vermeinte er, irgendwelche fürchterlichen Laute vernehmen zu müssen, das unvorstellbare Keuchen einer schrecklichen Prophezeiung, wie sie auf das eben begangene Sakrileg folgen mußte. Denn als ein Sakrileg empfand er das

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